Es gibt keine simple Erklärung

Seit Columbine häufen sich Amokläufe an Schulen und Universitäten in den USA. Die empirische Soziologie erforscht, welche Faktoren für diese Form von Gewalt ausschlaggebend sind.

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Nicht immer gibt es Warnsignale vor Amokläufen. Illustration: Lucie Hortmann

Sue Klebold entschließt sich nach 17 Jahren, ihre Geschichte zu erzählen. Sie beginnt im April 1999 an der Columbine High School in Colorado: „Mein Sohn Dylan und sein Freund Eric haben zwölf Schüler*innen und einen Lehrer getötet, mehr als 20 weitere Menschen verletzt und sich danach das Leben genommen.” Klebold ist die Mutter einer der beiden Columbine-Schützen. Im November 2016 hält sie auf der medizinischen Technologiekonferenz TEDMED in Kalifornien einen Vortrag über ihre Suche nach Gründen und Warnsignalen für den Amoklauf ihres Sohnes. Klebold erzählt, ihr werde oft vorgeworfen, dass sie die gewaltsame Tat ihres Sohnes hätte kommen sehen müssen. Doch sie betont, dass es keine einfachen Antworten gebe.

Auf der Suche nach Antworten

Die empirische Sozialforschung versucht, Antworten zu finden. Anne Nassauer, Soziologieprofessorin des John-F.-Kennedy-Instituts, analysiert Amokläufe. Ein Schwerpunkt ihrer Forschung ist Gewalt, wozu auch Schulamokläufe zählen, da sie eine drastische Form physischer Gewalt darstellen. In einem aktuellen Projekt vergleicht sie den Einfluss verschiedener Faktoren und untersucht, ob spezifische Kombinationen solcher Faktoren zu Amokläufen führen können. Sie greift hierbei auch auf die Ergebnisse des Projektes „Tat- und Fallanalysen hochexpressiver zielgerichteter Gewalt” (TARGET) zurück, das bis Mitte 2016 lief. Das Programm wurde in einem Forschungsverbund aus FU, den Universitäten Bielefeld, Gießen, Darmstadt und Konstanz und der Deutschen Hochschule der Polizei Münster durchgeführt und analysierte vorwiegend deutsche Fälle.

Im internationalen Vergleich gebe es in Deutschland wenige Amokläufe, erklärt Nassauer. In den USA hingegen seien sogenannte School Shootings und auch Amokläufe an Universitäten unverhältnismäßig häufig. Die Forschung zeige hierfür eine Vielzahl an Gründen: Neben einem höheren Anteil an sozialer Ausgrenzung und Bullying, sei die Gesundheitsversorgung für Menschen mit psychischen Problemen schlecht. Ihnen würden häufig direkt Psychopharmaka wie Prozac verschrieben, anstatt sie intensiver zu behandeln. Diese Medikamente können nämlich Suizidgedanken bei Betroffenen im jungen Alter nachweislich steigern. Hinzu kommt der einfache Zugang zu Schusswaffen und eine Art der Medienberichterstattung, die Amokläufern eine große Bühne bietet. Durch eine sensationsgierige Darstellung können die Täter zu Vorbildern für Nachahmer*innen werden. Auch spezifische Männlichkeitskonzepte und kulturelle Vorstellungen von Gewalt als effektive und „männliche” Problemlösungsstrategie können eine Rolle spielen.

Mehr Hilfen für psychisch Kranke

Sue Klebold legt in ihrem TED-Talk einen deutlichen Fokus auf den Einfluss psychischer Probleme. Sie fordert eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung für psychisch kranke Menschen im Allgemeinen. Nassauer hält Sue Klebolds Ansatz allgemein für sinnvoll und sieht in dem TED-Beitrag das Potenzial durch Stimmen betroffener Eltern eine öffentliche Debatte voranzutreiben. „Viele der Amokläufer in den USA waren psychisch krank – psychopatisch, psychotisch oder depressiv – und erhielten keine angemessene Hilfe. Manche Täter oder deren Freundinnen und Freunde suchten vor einem Amoklauf tatsächlich Hilfe – doch ohne Erfolg.”, erklärt Nassauer.

Sie warnt jedoch vor der Stigmatisierung psychisch kranker Menschen. Sie betont, dass kein einzelner Faktor als ausschlaggebend identifiziert werden könne, sondern ihre Kombination entscheidend sei. Psychische Gesundheit lässt sich nur schwer analysieren, weshalb sie sich als Faktor in der Forschung nicht klar zu konzeptualisieren sei. Dazu reichen spekulative Einschätzungen von Angehörigen oder Psycholog*innen im Nachhinein nicht aus, sondern eine zuverlässige Datenlage aus verschiedenen Quellen sei notwendig.

Erfolgversprechend sei hingegen die Analyse von Videoaufzeichnungen der Gewalttaten. „Smartphone-Videos, Überwachungskameras und Aufnahmen von Drohnen haben das Forschungsfeld über Gewaltentstehung revolutioniert”, sagt Nassauer. Die Forschung könne so inzwischen aus einer breiten Datenquelle schöpfen. Sie erklärt, dass die Forschung durch diesen exponentiellen Anstieg visueller Daten in der Lage sei zu analysieren, wie Amokläufe tatsächlich ablaufen, wie Täter konkret vorgehen und in welchen Situationen sie aufgeben oder überwältigt werden können. „Das macht dieses Forschungsfeld äußerst spannend und sehr vielversprechend.”

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Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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