Vier Fälle und ein Todesfall

Sprache ist ein ewiger Flow, hat unsere Autorin im Studium gelernt. Trotzdem hält sie sich gerne genau an die Regeln vong Grammatik her. 1 nachdenkliche Glosse mit Bilder. Von Corinna Segelken

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Ich gebe es zu: Ich bin eine Sprach-Neurotikerin. Kommt meine Freundin „wegen dem Seminar“ zu spät zu unserem Treffen, verzieht sich mein Gesicht zu einer leidenden Grimasse, ähnlich der, die ich mache, wenn ich Fingernägel auf einer Tafel quietschen höre. „Wegen des Seminars!”, schreit es in meinem Kopf und ich muss mich kurz sammeln, bevor ich mich wieder auf den Inhalt des Gesprächs konzentrieren kann.

Veränderung von Sprache ist ein natürlicher Prozess, ich kann ihn nicht aufhalten und das will ich eigentlich auch gar nicht. Aber warum rollen sich mir dann innerlich die Fußnägel hoch, wenn der Typ in der U-Bahn von der „einzigsten Frau in seinem Leben“ spricht? Ständig scheine ich mir selbst versichern zu müssen, dass ich die Grammatikregeln aus dem Deutschunterricht noch beherrsche und fühle mich erschreckend gut, wenn ich es kann. Vielleicht ist es mein Beitrag dazu, die Vergänglichkeit aufhalten zu wollen: Andere engagieren sich für die Denkmalpflege, ich benutze den Genitiv.

Dabei habe ich eigentlich schon deutliche Fortschritte gemacht. Als ich begann, Linguistik zu studieren, wurde mir eingetrichtert, dass Sprache einem ständigen Wandel unterliegt und es daher nie ein eindeutiges Richtig oder Falsch geben kann. Seitdem gehe ich mit meiner Sprachneurose um wie mit einem nervösen Tick. Ich akzeptiere ihn als Teil meiner Persönlichkeit und versuche dennoch ihn unter Kontrolle zu halten. Belehrte ich zuvor noch bei jedem vermeintlichen Fehler mein Gegenüber, presse ich nun bei einem Konjunktiv mit „würde“ nur stumm die Lippen zusammen. Vor meinem inneren Auge bildet sich jedoch instinktiv die korrekte Form und führt zu einer ungemeinen inneren Ausgeglichenheit, wie es sonst nur eines dieser „oddly satisfying“-GIFs in meiner Facebook-Timeline kann.

Warum meine ich immer noch, vermeintlich korrekte Grammatik beherrschen zu müssen? Schließlich kam schon Mark Twain zu Lebzeiten nicht umhin, der deutschen Sprache in verschiedensten Essays und flammenden Reden einen wohlformulierten Tritt in den Hintern zu versetzen. “Es liegt auf der Hand, dass die deutsche Sprache zurechtgestutzt und repariert werden sollte. Nur die Toten haben genügend Zeit, sie zu lernen”, schrieb er im Jahr 1880. Seitenlang zählt er Beispiele aus dem Deutschen auf, die sein englischsprachiges Hirn verwirrten. Der, die, das – und dann auch noch den, dem und des? Keine Sorge, Mark, könntest du heute den Gesprächen in einer Berliner U-Bahn lauschen, dann würdest du feststellen, dass auch der malträtierende Grammatik-Unterricht an deutschen Schulen der Artikel-Wahlfreiheit kaum etwas entgegen zu setzen hat.

Mark Twains Wunsch nach einer Reparatur des Deutschen stellen sich jedoch auch heute noch vehemente Gegner*innen in den Weg. Der Verein Deutsche Sprache etwa kämpft unter dem Vorwand der Sprachbewahrung mit aller Kraft gegen jegliche Einflüsse auf die deutsche Sprache. Dabei zeigt er eindrücklich, dass der Wunsch, die Vergänglichkeit aufzuhalten, leider oft auch mit nationalistischen Tendenzen einhergeht. Und zu denjenigen, die das Internet Weltnetz nennen, möchte ich nun erst recht nicht gehören.

So schlimm kann der sogenannte Sprachverfall wohl doch nicht sein, denke ich, schließlich hat der Schulunterricht zumindest mir ein automatisches Zusammenzucken bei falscher Imperativbildung ohne Stammvokaländerung beigebracht. Vielleicht sollten wir auch Veränderungen der deutschen Grammatik nicht mehr als Sprachverfall klassifizieren, sondern als kreative Neuschöpfungen. Dann könnte ich in Zukunft bestimmt gelassener mit meinen sprachlichen Neurosen umgehen.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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