„Wir haben ein Leben aus Fotos verloren“

Wer flüchtet, muss erleben, wie vergänglich ein Gefühl von Heimat sein kann. Sara und Reem kommen aus Syrien und studieren nun an der FU. Ein Gespräch über Erinnerungen, den Krieg und Bücher. Von Felix Lorber

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Sara studierte in Damaskus Elektrotechnik, hier hat sie nun einen Bachelor in Nordamerikastudien angefangen. Foto: Hannah Lichtenthäler

Sara wollte schon lange in Deutschland studieren. Als sie vor fünf Jahren Syrien verließ, hatte sich die Situation vor Ort bereits zugespitzt. Sie dachte damals nicht daran, dass sie in Deutschland bleiben würde. Sie ließ unbedacht Fotos und anderen Erinnerungen zu Hause bei ihren Eltern. Doch kurze Zeit später musste auch ihre Familie plötzlich die Wohnung in Damaskus verlassen und all ihre Sachen blieben zurück. “Wir haben ein Leben aus Fotos verloren”, sagt sie.

Auch Reem ist aus Damaskus und kam, genau wie Sara, mit einem Studierendenvisum an die FU. Wir treffen die beiden in einem Café in Steglitz. Sie freuen sich über die Möglichkeit zum Gespräch, wollen gehört werden. „Viele Menschen wissen nicht, was in Syrien passiert“, sagt Sara. „Du musst ihnen erklären, dass diese Menschen, die hierher nach Deutschland kommen, flüchten. Dass sie um ihr Leben kämpfen.“ Auch wenn Reem und Sara nicht geflüchtet sind, hat der Krieg in Syrien ihre Leben unweigerlich beeinflusst.

Sara hat in Damaskus bereits ein Bachelorstudium abgeschlossen. Da in Syrien mit einem geisteswissenschaftlichen Studium kaum Arbeit zu finden ist, entschloss sie sich damals zu Elektrotechnik und Telekommunikation. In Berlin entschied sie sich für einen Neuanfang und studiert mittlerweile Nordamerikastudien im vierten Semester – das kommende Semester wird sie in Kalifornien verbringen. Ihre Familie lebt weiterhin in Damaskus, genauso wie manche ihrer Freund*innen. “Theoretisch könnte ich nach Syrien zurückgehen, aber praktisch ist es im Moment völlig unmöglich“, sagt sie. In Berlin hat sie inzwischen eine eigene Familie gegründet. Ihre Tochter ist zwei Jahre alt.

In Damaskus wurde mehr zerstört als Straßen und Gebäude. Etwas, das nicht wieder aufzubauen ist: Erinnerungen, und mit ihr ganze Lebenswelten. „Wenn ich ein Bild von meiner Stadt sehe, werde ich so traurig. Die Tage vergehen und du kannst nicht zurückkehren, während alles kaputt geht – deine Stadt, dein Land.“ Es ist nur zu erahnen, was hinter Saras Worten alles steckt. Trauer, Schmerz, Ungewissheit?

Was bedeutet es für einen Menschen, seine Heimat zu verlieren? „Ich glaube, Heimat meint Zeit. Dass man an einem Ort viel Zeit verbracht hat”, beschreibt Sara ihr Gefühl. „Du kennst die Leute dort, die gemeinsamen Abende, die Gerüche, die Bäume, selbst das Wasser, das du trinkst.“ Was sie fühlt, ist stärker als Heimweh. “Ich werde Damaskus anders erleben, wenn ich es irgendwann wiedersehe.”

Reem steht inzwischen kurz vor ihrem Bachelorabschluss in Informatik und möchte bald den Master beginnen. Sie verließ die Hochburg der Regierungstruppen ein Jahr später als Sara. „Da wusste ich schon, dass ich nicht zurückkomme. Ich habe alle meine Sachen zusammengepackt.” In Deutschland zu studieren, das hatte auch sie schon länger geplant. Doch ihre Familie schaffte den weiten Weg aus Syrien hierher nicht auf Anhieb. Visa für alle gleichzeitig zu bekommen, stellte sich als unmöglich heraus. Reem und ihre Schwestern reisten daher nacheinander. Heute lebt die Familie in Deutschland verstreut, jedoch in erreichbarer Nähe. Die Eltern haben sich in einer thüringischen Kleinstadt eingelebt, der Vater arbeitet wieder als Arzt, die Schwestern studieren oder arbeiten.

Als wir sie fragen, was ihr am meisten fehlt, zögert sie kurz. „Ich vermisse am meisten das Gefühl, sicher zu sein, das Richtige zu tun. In Syrien wusste ich, wohin ich mit einem Problem gehen muss oder wen ich fragen kann. Das Gefühl habe ich hier nicht.“ Obwohl sie bereits sehr gut Deutsch spricht, machen ihr die bürokratischen Hürden und der Papierdschungel deutscher Behörden immer wieder zu schaffen. Andererseits ist sie froh über Garantien wie die gesetzliche Krankenversicherung. Schließlich sagt Reem: „Heimat ist für mich dieses Gefühl, wenn man von einem Urlaub oder einem langen, anstrengenden Tag nach Hause kommt. Du weißt genau, was es bedeutet. Das habe ich hier in Berlin noch nicht. Aber ich denke, es wird kommen.“

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Reem nahm eine kleine Kiste voll Erinnerungen mit nach Berlin. Foto: Marius Mestermann

Als Reem entscheiden musste, was sie aus Syrien mitnimmt, verließ sie sich auf dieses Gefühl. Sie packte eine kleine Box ein, voll mit Tickets von Veranstaltungen, Theater- und Kinobesuchen, Abenden, an denen sie in ihrem früheren Leben Spaß hatte. Fotos konnte sie, genau wie Sara, nicht mitnehmen. Das schmerzt beide sehr. Bilder bekommen eine neue Bedeutung, wenn sie etwas vor Augen führen, das für immer verloren ist. Doch auch daraus haben Reem und Sara etwas gelernt, nämlich, wie unbedeutend materieller Besitz wirklich ist.

Reem erzählt von ihrem Vater, der immer wieder versucht hat, seinen Kindern genau das beizubringen. „Wir haben immer gesagt, was soll schon passieren? Und dann, auf einmal, herrschte Chaos. Unser Geld, unsere Wohnung, unsere Praxis – nichts davon half uns.“ Sara erinnert sich, welche Gegenstände ihr damals am Herzen lagen: „Ich liebte meine Bücher, habe mir immer zu viele auf einmal gekauft. Kurz bevor ich nach Deutschland kam, habe ich mir bei einer Buchmesse wieder ganz viele besorgt, die jetzt alle verloren sind.”

Im Café ist es laut, lebendig. Die Erzählungen von Reem und Sara zeichnen ein Bild von Verlust, aber auch von Neuanfang und Optimismus. Wem die Vergänglichkeit der Welt bewusst ist, der weiß das Leben anders zu schätzen, sagten schon die barocken Künstler. „Alle Sachen, die wir angesammelt hatten, waren einfach weg. Geholfen haben uns da unsere Ausbildung und unsere Werte. Der Mut zur Offenheit, die Fähigkeit, flexibel zu sein. Diese Dinge bleiben, das kann man nie ausradieren“, sagt Reem vor dem Abschied.

Autor*in

Felix Lorber

schrieb, schreibt und wird geschrieben haben - für FURIOS und andere. Vorwiegend online, mal über Politik, mal über Musik.

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