Tweets als vielstimmiger Roman

Die amerikanische Kommunikationswissenschaftlerin Zizi Papacharissi erforscht, wie Twitter sich auf die Dynamiken sozialer Bewegungen auswirkt. Vic Schulte war bei ihrem Vortrag an der FU.

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Zizi Papacharissi analysierte die Twitter-Nutzung der Occupy-Bewegung. Foto: Vic Schulte

„Wer Informationen über aktuelle Ereignisse will, ist mit einer Zeitung besser bedient“ – mit dieser und 19 weiteren, ähnlich einfältigen Thesen erklärt der amerikanische Jura-Professor Eric Posner Twitter für nutzlos und schädlich. In seinem von der FAZ übersetzten und veröffentlichten Blogeintrag behauptet er unter anderem, Tweets seien „von der letzten Empörung getrieben und daher überflüssig“.

Dass Tweets einer gedruckten Zeitung in ihrer Aktualität überlegen sind, ist offensichtlich. Warum aber gerade die unterstellte Emotionalität Twitter zu einem interessanten Medium macht, veranschaulichte der Vortrag „Affective Publics: News Storytelling, Sentiment and Twitter“ von Zizi Papacharissi, Professorin für Politikwissenschaft und Leiterin der Abteilung für Kommunikationswissenschaften an der University of Illinois in Chicago. Ihr Vortrag an der FU war der Auftakt der mehrtägigen Konferenz „Affekte-Medien-Macht”, die unter anderem vom Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ veranstaltet wurde.

„Covfefe“ als sexy Schlagzeile

Unter Affekten im medialen Kontext versteht Papacharissi die kollektive Wahrnehmung eines Ereignisses. Nachrichten, Fakten, Meinungen und Emotionen überlagern sich. Es sei wichtig, zwischen dem Affekt und dem Ereignis selbst zu unterscheiden, weil der Affekt nur eine Ebene des Ereignisses darstelle. Er könne aber dabei helfen, sich in eine Geschichte hineinzufühlen. Wenn ein Affekt als Nachricht an sich wahrgenommen und behandelt werde, führe das zu einer Verflachung der Nachrichten, beklagt Papacharissi und benennt US-Präsident Trump als aktuelles Beispiel. Seine Tweets machten zwar „sexy Schlagzeilen“, seien im Grunde aber keine Nachrichten.

Vielstimmiges Geschichtenerzählen

Um zu untersuchen, wie Affekte auf Twitter wirken, hat Papacharissi Tweets über den Arabischen Frühling in Ägypten und die Occupy-Bewegung analysiert. Bei der Untersuchung der am häufigsten verwendeten Worte in Tweets zum Arabischen Frühling fand sie eine Art kollektives Framing: Noch bevor absehbar war, welche Konsequenzen die Demonstrationen haben würden, war fast immer von „Revolution“ und nur selten von „Protest“ die Rede. Die 300.000 Tweets, die Papacharissi gelesen hat, wirkten auf sie wie ein „polyvokaler Roman“: Viele Stimmen erzählen gemeinsam ihre Geschichte. Da die meisten derselben Meinung waren, sei auch ein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit untereinander entstanden.

Beleidigungen statt Dialog

Bei der Beobachtung der Occupy-Bewegung stellte sie zunächst fest, dass in der Debatte intensive Dialoge zwischen User*innen aus sehr unterschiedlichen politischen Lagern entstanden. Ihre Analysen zeichneten jedoch ein ernüchterndes Bild: Es wurden hauptsächlich Beschimpfungen ausgetauscht. Außerdem wurde aus neokonservativen Kreisen rund um die Tea Party versucht, durch „content injections“, also dem gezielten Platzieren von bestimmten Inhalten, die Debatte zu steuern. Ähnliche Versuche sieht Papacharissi derzeit im „Hashtag Hijacking“ rund um die „Black Lives Matter“- Bewegung. Dort werde versucht, durch Gegenkampagnen wie #AllLivesMatter oder #NoLivesMatter das Anliegen von „Black Lives Matter“ zu delegitimieren. In Zukunft wird laut der Kommunikationswissenschaftlerin vor allem der Einfluss von automatisch twitternden Social Bots interessant.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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