Für die brasilianische Choreografin Lia Rodrigues ist Tanz nicht nur eine ästhetische Kunstform, sondern auch kulturelles Engagement. Von Anna Hödebeck
Eine Kette aus jungen Menschen. Schritt für Schritt bewegen sie sich auseinander. Zwischen ihnen spannen sich leere T-Shirts, blutbespritzt, mit Einschusslöchern. Eine beeindruckende Szene aus der Performance „Joven Negro Vivo” von Lia Rodrigues, die in Zusammenarbeit mit Amnesty International Aufmerksamkeit auf die hohe Mordrate bei jungen, dunkelhäutigen Brasilianer*innen lenken soll. Dies ist nur ein Beispiel für das Werk der Brasilianerin, die in diesem Semester die Valeska-Gert-Gastprofessur an der FU übernimmt, um ihre Erfahrungen mit Studierenden der Theater- und Tanzwissenschaften zu teilen.
„Common Space“
Bei der Eröffnungsveranstaltung zu ihrer Professur berichtet Lia Rodrigues von ihrer bisherigen Arbeit. Besonders das Kulturzentrum in der Favela da Maré, einem der berüchtigten Slums in Rio de Janeiro, liegt ihr am Herzen. Mit viel Mühe hat sie dieses in einem alten Fabrikgebäude mit aufgebaut. Rodrigues betont Brasiliens hohe Mordrate, zeigt erschreckendes Bildmaterial und verdeutlicht damit, wie sehr Gewalt zum alltäglichen Leben in dieser Umgebung gehört. Schüsse überraschen hier keinen mehr. Die Favelas werden auf ihre potentielle Kriminalität reduziert und es fehlt an Investitionen und Bildung – die Ungleichheit Brasiliens ist nicht zu übersehen.
Das Kulturzentrum schafft einen gemeinsamen Raum in Maré, in dem Kunst und Kultur den Menschen nahe gebracht werden. Im Mittelpunkt steht vor allem Tanz. Neben zahlreichen Veranstaltungen werden zum einen professionelle Kurse angeboten, in denen junge Tänzer*innen gefördert werden und sich auf eine Tanzkarriere vorbereiten. Zum anderen gibt es kostenlose Tanzkurse, bei denen alle Altersklassen zusammen treffen und sich in verschiedenen Tanzstilen ausprobieren können. Niemand soll außen vor gelassen werden. Deswegen nimmt sich Lia Rodrigues die Zeit, ihren Zuschauern aufgeführte Stücke zu erklären, vor allem denen, die vorher nie mit zeitgenössischer Kunst in Berührung gekommen sind.
Soziales Engagement durch Kunst
Das Kulturzentrum soll die Favela da Maré mit seinem Programm langfristig bereichern und ihren Bewohner*innen den Zugang zu kultureller Bildung ermöglichen, der ihnen bis dahin verwehrt blieb. Die Kunst nimmt Einfluss auf die Gesellschaft und verschmilzt teilweise mit ihr, wenn das soziale Engagement künstlerisch kommuniziert und umgesetzt wird. Gleichzeitig fließen auch gesellschaftliche Themen in die Performances mit ein, wie das Video für Amnesty zeigt. Doch Veränderung ist harte Arbeit. Zeit und Aufmerksamkeit, die zum Beispiel die Finanzierung des Projekts beansprucht, lassen Lia Rodrigues auch zweifeln. Inwieweit ist sie noch eine Künstlerin, wenn kreative Aspekte den sozialen weichen? Dennoch bleibt das Kulturzentrum für sie eine Herzensangelegenheit, die ihr immer wieder die Realität Brasiliens vor Augen führt und der sie gerne ihre Zeit schenkt.