Was müssen wir noch sehen?

Stacheldraht” – das Wort, welches Clara Nack im dunklen Kinosaal auf ihren Zettel kritzelt. Über ein Jahr und 23 Länder hinweg gefilmt, dokumentiert Human Flow” das Suchen nach einem Ankunftsort.

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Ai Weiweis Perspektive: Nicht wegschauen. Bildmontage / Foto: Human Flow, Illustration: Joshua Leibig

Der blaue Ozean, die glitzernden Wellen, durch die sich ein voll bemanntes Schlauchboot schiebt. Geflüchtete aus Afrika, die nacheinander in reflektierende Wärmedecken gehüllt werden. Kinder, die von Soldat*innen über die jordanische Grenze getragen werden, ohne sich zu beschweren oder nach ihren Eltern zu rufen. Der kleine Bruder, der seinen großen weinen sieht und ihm versichert, ihn überallhin zu begleiten. In seiner neuen Dokumentation „Human Flow” (2017) zeigt Ai Weiwei die Wanderung zu und das Warten vor genau diesen Grenzen, die sich heute im Vergleich zu Zeiten des Berliner Mauerfalls nicht nur wesentlich vermehrt haben, sondern nun auch befestigt und unpassierbar sind.

Es bedarf der Untertitel

Die Flüchtlingskrise wird von Ai Weiwei nicht durch einzelne Schicksale konkretisiert, sondern spitzt sich durch wie zufällig gesetzte Schnitte und Drohnenaufnahmen zu. Dies beschreibt die Kontextlosigkeit der Leben, in die sich derzeit 65 Millionen Menschen begeben mussten. Der Film folgt keiner speziellen Route. Die textuellen Einspieler aus Definitionen, Zeitungsartikeln, aktuellem Hintergrund und Zitaten nahöstlicher Poet*innen geben uns eine Ahnung von dem menschlichen Gefühl, dass durch den zuletzt gezeigten Abschnitt vermittelt werden soll. „We have the luxury of calling these scenes ‚otherworldly‘“, sagt Ai Weiwei in einem Interview mit der Filmplattform IndieWire über Bildaufnahmen der Extremsituationen, die ihm auf der Reise begegnet sind. Im Verlauf des Films taucht Ai Weiwei häufig selbst auf. Es ist schon fast abzuschätzen, wann wir seine mit dem iPhone filmende Güte das nächste Mal sehen werden. Doch gleichzeitig kreiert diese, von seinem Filmteam aufgenommene Präsenz des Regisseurs auch eine Atmosphäre von behind the scenes und off the record – als laufe man selbst mit.

Kurzzeitige Eindrücke und echte Anteilnahme

Eine Szene zeigt Geflüchtete demonstrieren. „Are we not human?“, fragen sie. Ein junger Mann hat „Respect“ auf sein Schild geschrieben, das Wort nimmt die halbe Leinwand ein. Er versteckt sich hinter seinem Schild. Ai Weiweis Schilderung birgt eine akute Notwendigkeit an echter, universeller Anteilnahme in sich. Daran, dass wir natürlich mitgenommen sind von den Bildern, die wir sehen, jedoch das Kino verlassen und unserer Routine ohne Veränderung nachgehen werden. Ai Weiwei schneidet diesen Film als Zeuge mit, er zeigt das Ausmaß der Katastrophen und Umstürze dieser Welt, die Menschen dazu bewegen, ihre Heimat zu verlassen und jahrelang, teilweise über Generationen hinweg nicht anzukommen. Möglichkeiten, Grenzen und Perspektiven bleiben ihnen verschlossen durch diejenigen, die selbst keine einzige Nacht in Zelten, auf der Flucht verbringen mussten. Mehr Kontext braucht es nicht; das sollte es auch nicht, denn mehr als zum Nachdenken anregen kann dieser Film nicht. Die extremen Eindrücke, der Stacheldraht, den ein Jahr zuvor noch Millionen von Menschen passieren konnten, die verstärkte Abwehrhaltung und die zerstörten Heimaten lassen uns diesmal nicht wegschauen. Sie erscheinen jedoch weiterhin als weit entfernte Realität.

Die Dokumentation “Human Flow” (2017) von Ai Weiwei läuft seit dem 16. November in ausgewählten deutschen Kinos. Kinofilm, 140 Minuten, FSK 6 – 2017

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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