Zwischen Genie und purem Wahnsinn

Philipp Preuss inszeniert an der Schaubühne das Stück „Das Kalkwerk”. Es ist die schaurige und fesselnde Geschichte einer unerfüllten Obsession. Von Annika Reiß

Bildmontage / Foto: Thomas Aurin für die Schaubühne Berlin, Illustration: Joshua Leibig

Minimalistisches Bühnenbild und großes Schauspiel. Bildmontage / Foto: Thomas Aurin für die Schaubühne Berlin, Illustration: Joshua Leibig

Dunkel und totenstill. So findet „Das Kalkwerk” seinen etwas eigenartigen Anfang. Ein nahezu leerer Raum, in dem nichts liegt als ein Paar Schuhe, eine Flasche Wasser und ein Aufnahmegerät und in dem nichts steht als ein Stuhl mit einem Mann in Frauenkleidung. Mit einer ruhigen Stimme beginnt Konrad, die Hauptfigur des nach einem Roman von Thomas Bernhard inszenierten Stücks, zu erzählen. Von seiner Studie über das menschliche Gehör, welcher er sich seit nunmehr beinahe drei Jahrzehnten widme. Er erzählt von den Experimenten, die er an seiner im Rollstuhl sitzenden Frau durchgeführt hat. Stundenlange Sitzungen, bei denen er ihr an die hundert Mal ein und denselben Satz sagte. Jahrelang bekommt sie von ihm lediglich das Wort Rinnsal zu hören. Immer und immer wieder. Zudem quält er sie bei Ungehorsam auf äußerst sadistische Weise.

Der Schauspieler Felix Römer verkörpert den Wahnsinn Konrads mit Leichtigkeit. Mit den langen Pausen in seinem Monolog lässt er die Anspannung anschwellen bis sie den Höhepunkt erreicht. Man folgt jeder kleinsten Bewegung Römers und sucht in jedem seiner Sätze nach Erklärungen darüber, wer er ist, wo er sich befindet und wie er in diese Situation gekommen ist. Spielend gelingt es ihm das gesamte Publikum zu fesseln.

Optische Kargheit trifft extravagante Manie

Der Ton ändert sich schnell, als Konrad die Zuschauer*innen langsam in seine innere Zerrissenheit einweiht, seine schiere Verzweiflung über sein Unvermögen, die Studie niederzuschreiben. Mit beeindruckender Mimik und Gestik und einer ungeheuren Stimmgewalt zieht Felix Römer auch weiterhin alle Aufmerksamkeit auf sich. Hinzu kommt das minimalistische, nahezu beklemmend leere – ja, kann man es überhaupt Bühnenbild nennen? Nach zwanzig Minuten aufmerksamen Lauschens beginnt man zu begreifen, was einem nun höchstwahrscheinlich bevorsteht: ein ausgedehnter Monolog, der die eigene Konzentration auf eine harte Probe stellen wird. Und tatsächlich ist dieser Monolog das Einzige, was dem Publikum in „Das Kalkwerk“ begegnen wird. Eine lange Geschichte, erzählt von einem Mann, der nach vielen Jahrzehnten der Arbeit an seiner Studie und dem Leben in einem riesigen, einsamen stillgelegten Kalkwerk dem Wahnsinn verfallen ist.

Eine gescheiterte Existenz

Das Stück endet mit Konrads völliger Offenlegung seines Versagens. Ihm ist bewusst, dass das Leben im Kalkwerk für seine Frau unerträglich war. Er gesteht den Mord an ihr, untermalt von Musik wälzt er sich in Mehl und Eiern. Ist das nicht doch irgendwann mal zu viel? Die fast eineinhalb Stunden höchst experimentellen Theaters lassen ein ratloses Publikum zurück. Ratlos, aber definitiv nicht gelangweilt. Man wird mitgerissen und kann es nicht erwarten, zu erfahren, was als nächstes passiert. Es ist eine Geschichte voller Witz, Nachdenklichkeit und Tragik, die aber besonders einem bedarf: offenen Zuschauer*innen, die bereit sind auf die Reise einer menschlichen Tragödie zu gehen. Wer sich dem aber entzieht, lässt sich zweifelsohne etwas entgehen.

„Das Kalkwerk” von Philipp Preuss ist noch bis zum 18. Januar 2018 in der Schaubühne Berlin zu sehen.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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