Wort frei! Ein Hauch von Anarchie

Allmählich verlieren wir uns in mannigfaltigen Ordnungen. Finn Giese ergreift dagegen das freie Wort und entdeckt Chaos – nicht nur in Lagos.

Die Worte sind frei! / Collage: Christine Zeides; Illustration: FURIOS

Unsere Rubrik „Wort frei!” ist eine Plattform für eure ungebändigte Kreativität. Ob Prosa, Lyrik, Comic oder Cartoon, wir sind gespannt auf eure Beiträge.

Warum mögen Menschen Haustiere, Kinder, Kriminalromane oder avantgardistisches Theater? Weil sie ihre eigene Ordnung sonst nicht ertragen könnten. Wir haben so lange an unseren Abwasserversorgungssystemen und Stundenplanausfallvertretungen gearbeitet; an Heeresformationen und Versmaßen. Seit Anbeginn unserer Spezies haben wir uns bemüht, das Tohuwabohu, das unsere Bewusstwerdung in uns ausgelöst hat, diesen tosenden Orkan an herumwirbelnden Gedanken, in ein Regelsystem zu zwängen, das uns ruhig schlafen lässt. Jetzt, da wir in weiten Teilen dort angekommen sind, wo wir immer gemeint haben hinzumüssen, beschleicht uns das Gefühl, mit dem nahenden Ende dieser Suche etwas unwiederbringlich zu verlieren.

Lagos ist eine Stadt, die sich selbst schafft, bevor sie ihre Ordnung schafft. Sicher, das könnte man über viele Städte sagen, aber Lagos würde nur daneben stehen, sich eine Crackpfeife anzünden, ein Weltklasse-Hip-Hop-Album herausbringen und herzlich lachen. Danach würde es ein ganzes Schwein braten, dich auf ein Kulturfestival der Igbo einladen und in der Nacht verschwinden, bis du es allmählich vergisst und doch eines Abends von deinem Schlummer vor dem Kamin erwachst, da du einen Brief in deinen Händen hältst. Der Brief ist aus vergilbtem Papier und stammt noch aus der Zeit der britischen Kolonialverwaltung. Adressiert an einen “General Macaulay” steht da:

Lieber Freund!

Seit Jahren nun schon sehne ich mich nach einer Rückkehr in die sengenden Fluten an Licht, welche der afrikanische Kontinent in sich birgt; ich vermisse die stolze Pracht seiner Natur, die Unendlichkeit seiner Küsten, ja, selbst die Afrikaner in ihrer unbeugsamen Haltung, die sie die Müh‘ des Alltags ertragen lässt, vermisse ich. Lass mich bald wieder zurückkehren, ich bitte dich!

Der Brief endet abrupt, ohne Absender. Du drehst ihn um. Auf der Rückseite befindet sich kein einziges mit Tinte geschriebenes Zeichen mehr, wohl aber ein Geräusch: Ein Schlurfen ertönt, sobald man sich daran macht, das leere Blatt zu entziffern. Verwirrt legst du den Brief weg und denkst darüber nach, was du gerade erlebt hast. Die Glut im Kamin ist noch warm, dabei zeigt dir die Uhr über dem Küchenfenster klar und deutlich, dass du bereits vor sechs Stunden in die Nacht gefallen bist.

Ein seltsames Gefühl trägt dich in deinem Morgenmantel hinaus Richtung Wintergarten. Du verspürst keine Panik, nichts erscheint dir mehr merkwürdig – wie auf ruhiger See gleitest du auf den ovalen Tisch zu, der den Mittelpunkt des kargen Raumes bildet. Zwei Sätze ertönen aus dem Radio, das du offensichtlich angelassen hast: „Es ist schon spät, früher hatten sie zu dieser Zeit Sendeschluss…“ und „Vergib mir, o Herr, wenn Du mich jemals geliebt hast, vergib mir!“ Danach folgt ein unentschlüsselbares Kauderwelsch, welches sich dir nach längeren Recherchen im Folgemonat als Neapolitanisch offenbart. Unmittelbar denkst du an die engen Gassen der Stadt; an den tosenden Verkehr und den Müll; an die italienischen Graffiti, die hässlich sind wie die steinernen Alpträume, die sich aus dem Armenhaus Westeuropas in die Lüfte erheben. Du denkst daran, wie sehr du diese Stadt liebst; wie sehr du Lagos liebst.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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