Jedes Semester wagen Studierende aus aller Welt den Neuanfang in Berlin. Johanna Hoock hat mit drei von ihnen gesprochen, jeweils in ihren ersten Tagen in der Metropole und kurz vor ihrer Rückkehr.
Ein Berliner Studierendenwohnheim dient als ideale Quelle, um gesprächsfreudige Austauschstudierende zu finden. In den Fluren und Küchen tummeln sich junge Menschen aus den verschiedensten Winkeln der Welt. Wenn man beim Nachbarn ein Paket abgibt oder nach einem Dosenöffner fragt, ist die Umgangssprache meist Englisch und nicht selten landen beim Abendessen Gerichte aus Indien, Bulgarien, Russland oder Syrien auf dem Tisch. So fanden sich Joanna aus Griechenland, Lucas aus Kanada und Serena aus Italien. Sie alle sind Anfang 20, in ihrem fünften Semester und Teil der über 1000 Studierenden die jedes Semester über Erasmus und andere Austauschprogramme an die Freie Universität kommen. Und was das für sie bedeutet, haben sie FURIOS erzählt.
Joanna (22) aus Griechenland
1. Joanna: Viel zu viel zu tun„Ich habe Angst, weil alles ein bisschen anders ist als in Griechenland“, sagt Joanna zögernd. Sie studiert Englisch an der Universität von Athen, mit circa 104.000 Studierenden die größte Präsenzuniversität Europas, und ist nun für ein Semester an der FU. Athen ist auch eine Hauptstadt, aber Berlin sei eben sehr groß und überhaupt nicht zu vergleichen. Lange Wege, sehr viele Möglichkeiten, „du könntest hier alles machen, was du willst“, sagt die Griechin mit ruhiger Stimme und wachem Blick. Für Deutschland habe sie sich entschieden, um ihre Sprachkenntnisse aufzufrischen und festzustellen, wie das Leben hier ist. Aber ob die Leute nett seien und man gut Anschluss fände, ist sich Joanna noch nicht sicher.
2. Joanna: “Ich bereue nichts.”„Es wurde immer besser”, sagt Joanna. „Freunde, die Sprache, all das kam nach und nach. Das Studium werde ihr fehlen, zum Beispiel das hohe Niveau und die vielen Freiheiten an der FU. Ein großer Unterschied seien die vielen Seminare gewesen. In Griechenland seien Vorlesungen der wichtigste Teil des Studiums und es käme mehr auf den Input der Dozierenden statt Diskussionen an. An Berlin habe sie vor allem eins fasziniert: Dass alle Menschen akzeptiert würden und Teil der Gesellschaft seien. „Du kannst aussehen, dich verhalten, wie du möchtest, und es ist okay, anders zu sein“. Ob sie die Stadt mit einem Wort beschreiben könne? Vielfalt. Berlin sei nicht beständig, sie habe keine „Berliner Identität“ feststellen können, weil „alles irgendwie im Fluss“ sei. „Ich habe nicht gedacht, dass ich Deutschland so gern haben würde“ stellt sie am Ende fest, „es ist schwierig, mich von Berlin zu trennen“.
Lucas (22) aus Kanada
1. Lucas: Bürokratie oder Freiheit?„Ich liebe die deutsche Sprache“, sagt Lucas mit leuchtenden Augen. Der ambitionierte Deutsch-Lerner, liest Romane von Kafka und beim Gespräch wandert sein Blick durch den Raum, stets auf der Suche nach der richtigen Formulierung. Eigentlich wollte er erst lieber nach Hamburg, gesteht er, „Ich glaubte, Berlin wäre zu international“. An seiner Heimatuniversität, der McGill University in Montreal studiert Lucas Philosophie und Politikwissenschaft. Dort empfahl man ihm die FU auch als guten Ort, um Philosophie zu studieren. Nachdenklich lehnt er sich zurück: „Ich hoffe, hier mehr Freiheit im Studium zu haben, und ich möchte neue Freunde in Deutschland finden“. Problematisch war schon eine erste Begegnung mit der deutschen Bürokratie: Für eine Krankenversicherung brauchte er ein Bankkonto, für ein Bankkonto eine Telefonnummer, aber für diese wiederum ein Bankkonto. Letztendlich habe sich doch alles irgendwie geklärt, aber „es war kompliziert und ich habe viel Zeit verloren“, berichtet er.
2. Lucas: „Ich liebe die Atmosphäre.“ “Er sei überrascht gewesen, dass Berlin seiner Heimatstadt so ähnlich sehe. „Berlin ist sehr liberal, es gibt viele Parks, die Straßen sind breit.“ Während seines Studiums an der FU habe er viel mehr Freizeit gehabt, für Besuche im Deutschen Historischen Museum und Reisen mit dem internationalen Club der FU nach Dresden etwa. Auch die Atmosphäre an der Uni sei viel entspannter. „Das Verhältnis zu den Dozierenden ist nicht so formell und es ist toll, dass der Schwerpunkt auf der Unterhaltung und Diskussion liegt“. Im Wohnheim habe er verschiedenste Leute kennengelernt, sogar zum ersten Mal einen Mensch aus Kirgistan getroffen – seinen Nachbarn. An der Uni sei es zunächst schwierig gewesen, mit Deutschen in Kontakt zu kommen, aber beim Salsa-Kurs des Unisports habe er dann doch Muttersprachler*innen kennengelernt. Besonders gut am deutschen Unisystem gefällt ihm auch, dass zwischen den Semestern so viel Zeit sei, die man nutzen könne „In Europa ist es so einfach, zu reisen“.
Serena (21) aus Italien
1. Serena: Volle Ladung Deutschland!Lässt man sie über ihre Gründe für ein Erasmussemester erzählen, gerät Serena ins Schwärmen über die deutsche Literatur, Kultur, die Sprache: „Ich will mit meinen eigenen Augen und Ohren erfahren, was ich da eigentlich lerne“, sagt die Italienerin mit fester Stimme. An der Universität von Triest studiert sie Deutsche und Englische Literatur und Sprache. Bei einem kurzen Aufenthalt in Augsburg, habe sie schon gemerkt, dass das vermittelte Bild von Deutschland in den Lehrbüchern nichts mit der Realität zu tun habe. „Niemand sagt hier ‚Auf Wiedersehen‛“, stellt sie lachend fest. In ihre Vorfreude und Neugier mischt sich auch etwas Angst vor der großen, chaotischen Stadt, weil es so viele Dinge zu tun gebe, so viele Menschen kennenzulernen. Am Ende wird sie realistisch: Fünf Monate seien zu wenig Zeit, aber „es ist immerhin etwas und meine einzige Chance, hier für eine Weile zu sein“.
2. Serena: „Euer Essen habe ich aufgegeben.“ Der gravierendste Gegensatz zwischen Deutschland und Italien, den sie hier festgestellt habe: die Essenskultur, natürlich. Sie habe wirklich versucht, offen zu sein, betont Serena, aber sie habe aufgegeben: „Ihr Deutschen mischt zu viele Dinge zusammen und warum gibt es in der Mensa kein Abendessen?“. Ein anderer großer Unterschied: Die Mitsprache der Studierenden während der Lehrveranstaltungen. Es sei gut, dass man ermutigt werde, sich eine eigene Meinung zu bilden. „Aber fühle ich mich auch, als hätte ich überhaupt nichts gelernt“. Sie vermisse das italienische System. Dort könne sie einfach ihren Kopf ausschalten und die Worte der Professor*innen aufschreiben. Serena ist auch ein bisschen enttäuscht. Sie habe sich mehr persönliches Interesse von den deutschen Professor*innen und Kommiliton*innen gewünscht. Das habe sie inspiriert: „Vor Erasmus habe ich mich auch nicht für internationale Studierende interessiert – das will ich jetzt ändern.“