Wort frei! Frühstück mit Adorno

Berlin- eine Kulturoase unbegrenzter Möglichkeiten. Dass das Studium da manchmal zu kurz kommt, ist kein Wunder. Lavinia Steinfels darüber, wie der Freizeitstress ihren Alltag zu dominieren begann…

Die Worte sind frei! / Collage: Christine Zeides; Illustration: FURIOS

Unsere Rubrik „Wort frei!“ ist eine Plattform für eure ungebändigte Kreativität. Ob Prosa, Lyrik, Comic oder Cartoon, wir sind gespannt auf eure Beiträge.

Möglichkeiten schaffen
Nachdem ich endlich verstanden hatte, wie „Studieren“ funktionierte, wollte ich mich den
unendlichen Möglichkeiten widmen, die Berlin für „junge Leute“ wie mich zu bieten hatte.
Meine anfängliche „Studieren? Eeeaasy!“-Haltung hatte dafür gesorgt, dass mich bereits im
zweiten Semester die Realität der Pflichtliteratur brutal auf den Boden der Tatsachen
zurückholte. Doch nun war meine Zeit gemanagt. Ich kannte die „Eisenhower-Matrix“ und
arbeitete mit der „Pomodoro-Technik“ an meiner Produktivität; die psychologische
Studierendenbetreuung sprach mir ein hohes Maß an Selbstorganisation und Stressresistenz
zu und die ersten Prüfungsergebnisse konnten sich auch sehen lassen: Berlin – ich bin bereit
für Dich!

Wird über „die Mutterstadt“ gesprochen, so ist immer die Rede von „Szenen“. Das
„Szeneviertel“, eine „Szenekneipe“ oder auch die „Drogenszene“. Ich hatte keine Ahnung von
diesen Dingen; kam ich doch aus einer Kleinstadt, in der es nur die Fußballer, die Musiker
und diejenigen gab, die immer am Busbahnhof herumlungerten. Nicht, dass ich nun das
Bedürfnis hatte, mich unbedingt einer dieser „Berliner Szenen“ zuzuordnen, aber einige jener
„verrückten Leute“ wollte ich schon treffen, die nach Franz von Suppé mittlerweile in Berlin
verweilen müssten. Außerdem machten mich all die politischen Veranstaltungen neugierig.
Meist entdeckte ich die Werbeflyer jedoch viel zu spät oder las nur am Ende eines Tages auf
Facebook, welche interessanten Demos und Workshops stattgefunden hatten. Nun sollte
jedoch alles anders werden, denn ich hatte einen Plan: Eine „To do in Berlin“- Liste. Darauf
stand unter anderem: 20 neue Hipstercafés testen, fünf Museen/Ausstellungen besuchen, drei
Filme in einem „independent cinema“ ansehen und jede Woche an mindestens einer
politischen Veranstaltung teilnehmen.

In den ersten Wochen setzte ich meinen „Berlin-Schlachtplan“ sehr akribisch um, plante
Theater- und Kinobesuche ein, meldete mich bei einem Plasmaspende-Zentrum an und tourte
durch die verschiedenen „Szenen“, um neue Cafés, Bars und fancy Restaurants zu finden.
Facebook nutzte ich, um nach Veranstaltungen zu browsen, die auf keinen Fall verpasst
werden durften. Buchvorstellungen, Argumentationstraining, Podiumsdiskussionen und
Ringvorlesungen: der „interessiert“-Button glühte, manche Freund*innen sagten mir spontan
ihre Begleitung zu und ich übertrug die besonders interessanten Dinge direkt in meinen
Kalender. Es gab so viel zu sehen, zu tun und zu hören und der Plan, an außeruniversitären
Bildungsveranstaltungen teilzunehmen, erfüllte mich mit Stolz auf mein „erwachsenes Sein“,
welches auch in der Freizeit ständig nach neuen Herausforderungen strebt, um den Geist
frisch zu halten. Bisschen over the top? Vermutlich.

Bei der Rosa-Luxemburg Stiftung meldete ich mich für einen Lesekreis von „Das Kapital“ an,
den ich jedoch bereits nach dem zweiten Mal nicht wieder besuchte, da ich das Lesepensum
doch nicht schaffte. Dafür schloss ich mich mit drei Kommiliton*innen zusammen. Wir lasen
wöchentlich gemeinsam ein Essay einer wichtigen Person und diskutierten anschließend über
die Kernideen und deren Bedeutung für unsere heutige Welt: Arendt, Heidegger, Chomsky…
Alle waren mal dran! Wir trafen uns in kleinen Cafés mit Selbstbedienung, tranken vegane
Matcha-Latte und ich fühlte mich ein wenig wie eine moderne Version der Simone de
Beauvoir, die einst zusammen mit Sartre in Pariser Bistros über den Existenzialismus
philosophierte.

Der November hatte mittlerweile begonnen und das noch vor einigen Tagen frisch
erscheinende Semester hatte bereits das erste Motivationstief erreicht. Referate warteten auf
ihre Vorbereitung, die Sekundärliteratur stand unangetastet im Regal und die eine Hausarbeit
aus dem letzten Jahr wurde auch langsam fällig. Ich kam nach Hause und schaute in meinen sozialen Veranstaltungskalender: „Argumentationstraining gegen Rechts, 18 – 22 Uhr“. Nur
mal kurz hinlegen und chillen, dachte ich mir, öffnete den Laptop, startete Netflix und schaute
für den Rest des Abends zum gefühlt 20. Mal die erste Staffel von „New Girl“. Kontinuität im
Veranstaltungsstrudel? Kann ich!

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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