Im Land der Zeit geht es nur vorwärts

Mit Louis-Philippe Dalembert hat ein Zeitreisender die Samuel Fischer-Gastprofessur am Peter Szondi-Institut übernommen. Der selbst bezeichnete Vagabund verarbeitet die Stationen seines Lebens teils autobiografisch in seinen Werken – nächster Halt: Berlin. Von Carla Spangenberg

Foto: Tim Gassauer

Die Frage, wohin er niemals reisen würde, ist für Louis-Philippe Dalembert schwer zu beantworten. Und doch gibt es da diesen einen Ort: »Ich bin niemals in das Stadtviertel meiner Kindheit zurückgekehrt.« Für Dalembert ist die Kindheit der Punkt, an dem die Reise durch die Zeit beginnt – einen Weg zurück gibt es nicht. 1962 geboren, verbrachte der Schriftsteller seine Kindheit in Bel-Air, einem Armenviertel von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. Da sein Vater kurz nach seiner Geburt verstarb, wuchs er mit seiner Mutter, Großmutter und großen Schwester auf, die ihm noch heute als Vorbilder dienen. Im Alter von sechs Jahren verließ er gemeinsam mit seiner Familie zunächst Bel-Air und mit 23 alleine Haiti, um in Nancy und Paris zu studieren. Danach lebte er unter anderem in Rom, Jerusalem, Berlin, Milwaukee und im Kongo. Auch nach Haiti kehrt er regelmäßig zurück – nie aber nach Bel-Air.

In seinen Romanen und Gedichten erzählt Dalembert vom Vagabundieren: »Das Leben ist eine einsame Reise, auf der du da und dort anhältst und Menschen begegnest«, erklärt er dieses Konzept, das für ihn mehr ist als Reisen oder Weltenbummeln. Nun führt ihn sein Lebensweg nach Berlin –  im Wintersemester 2018/19 hat er die Samuel Fischer-Gastprofessur des Peter Szondi-Instituts angenommen. Im Interview erinnert Dalembert sich an seinen ersten Aufenthalt in Berlin im Jahr 2010: »Ich habe mich gefragt, wo ich hier gelandet bin: Überall lag Schnee, alles war vereist und ich konnte kaum laufen.« Doch im Frühling habe er sich mit der Stadt versöhnt: »Ich habe noch nie eine Stadt so erblühen sehen wie Berlin.« Diese Faszination des Jahreszeitenwechsels entspricht Dalemberts Thematik des Vagabundierens: Der Mensch bereist vielmehr die Zeit als den Raum und wird dadurch genauso verändert, wie die Orte um ihn herum. Aus dieser Idee formt Dalembert das Wort »Zeitenland« (frz. pays-temps).

Wie Dalembert selbst, befinden sich auch die Hauptfiguren seiner Werke auf der Reise, sind umgeben von starken Frauen, vielen Sprachen und Kulturen. Der Autor scheint stets präsent zu sein und so lernen die Lesenden vor allem ihn kennen. Ein Übermaß an Autobiografie zeugt nicht immer von literarischer Größe, doch Dalembert schafft es, sein persönliches Thema stets neu zu übertragen. In seinem 2017 erschienenen Roman »Bevor die Schatten verblassen« (frz. Avant que les ombres s’effacent) entfernt er sich am weitesten von seinem eigenen Leben: Er erzählt die Geschichte des polnischen Juden Ruben Schwarzberg, der vor den Nationalsozialisten flieht und schließlich ins Exil in Haiti gelangt. Dalembert macht damit auf die wenig bekannte Tatsache aufmerksam, dass Haiti 50.000 Juden aufnahm. Hierbei wird aber auch deutlich, dass die Gründe für die Reisen in den unterschiedlichen Werken kaum miteinander zu vergleichen sind: Während Ruben Schwarzberg vor dem Nationalsozialismus flieht, treibt andere Figuren eine Sehnsucht nach der Ferne an. So verschwimmen Vertreibung und freiwillige Migration, wodurch das Schicksal Geflüchteter ein Stück weit trivialisiert wird. Dennoch bildet das Vagabundieren ein literarisches Konzept, das durch die Romane wandert und die verschiedenen Biografien miteinander verbindet. 

Durchzogen von kreolischen Sprichwörtern, spanischen Zitaten und jiddischen Ausrufen, bilden Dalemberts Werke eine Vielstimmigkeit ab, welche die Leser*innen mit dem »Anderssein« konfrontieren soll. Auch der Vagabund stehe permanent unter dem Einfluss anderer Kulturen und forme dabei seine ganz eigene Sprache: »Wenn ich mich dazu entscheide, etwas in Spanisch oder Italienisch zu schreiben, dann meist auch, weil ich dadurch den gewissen Geschmack der Sprache behalte«, erklärt der siebensprachige Schriftsteller. Dabei müsse man nicht jedes Wort verstehen, sondern sich in die Vielsprachigkeit fallen lassen.

Auch die Präsenz starker Frauen in seinen Werken erklärt Dalembert anhand seiner eigenen von weiblichen Familienmitgliedern geprägten Biografie: »Die Gleichberechtigung der Geschlechter war für mich immer etwas Natürliches – das überträgt sich ganz automatisch in mein Schreiben.« Trotzdem habe er früh gemerkt, dass außerhalb seines Familienhauses das Patriarchat vorherrsche. Die spezielle Rolle der Frau in Haiti hängt laut Dalembert mit der Geschichte der Sklaverei zusammen. Sklavinnen hätten nicht nur die sexuellen Übergriffe der Sklavenhalter erdulden müssen, sondern seien auch den Demütigungen durch männliche Sklaven ausgesetzt gewesen. Diese Geschichte und der in Mittelamerika weit verbreitete Machismus hätten ihre Spuren bei Haitis Frauen hinterlassen: »Die Frauen mussten immer stark sein. Während alleinerziehende Mütter von den Männern verlassen wurden, meist die gesamte Verantwortung innerhalb der Familie tragen, sind die öffentlichen Ämter und Führungspositionen von Männern bekleidet.« Aufgrund dieses strukturellen Sexismus hat Dalembert sich in der Jugend feministischen Bewegungen angeschlossen. Wie die Reise durch die Zeit nur vorwärts geht, hält er auch den Fortschritt des Feminismus für unaufhaltsam. Aktuelle Rückschritte möchte er dabei nicht wahrhaben: »Männer wie Trump in den USA oder Bolsonaro in Brasilien sind nur das letzte Aufatmen der Macho-Bestie.« 

Dass es kein Zurück gibt, thematisiert Dalembert in seinem Roman »Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi« (frz. Le crayon du bon Dieu n’a pas de gomme). Er handelt von einem Mann, der nach langer Zeit in seine Heimat Haiti zurückkehrt, und dort weder Menschen noch Orte wiedererkennt. Unterbewusst hat auch Dalembert Angst, das Stadtviertel seiner Kindheit wiederzusehen. »Einmal habe ich von dem Viertel geträumt: Es lag verändert vor mir und ich habe mich gefreut über den Fortschritt, die Urbanisierung und doch bedauert, dass es das Viertel, wie ich es kenne, nicht mehr gibt. Ich glaube, das möchte ich nicht in Wirklichkeit sehen.« Dalembert schreibt getrieben vom ständigen Aufbruch ins Ungewisse. Auf dieser Reise durch die Zeit wandeln die Orte sich, so wie es der Reisende tut. Sollte er jemals den Ort seiner Kindheit aufsuchen, wird es doch niemals eine Rückkehr sein.

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