Es muss nicht immer gleich die große Hegel- oder Marxlektüre sein. Auch die komprimierten Fassungen des School of Life-Gründers Alain de Botton bieten interessante Denkanreize, meint Julia Hubernagel.
Wenn die großen Fragen des Lebens in Krisenzeiten an die Tür klopfen, öffnen wir selten mit den Worten: „Ach hallo, kommt doch rein. Jean-Paul Sartre, Anna Freud und ich sitzen gerade in der Küche und diskutieren, aber für euch ist auch noch ein Stuhl frei.“ Wäre jeder von uns ein derart entspannter Gastgeber, da ist sich Alain de Botton sicher, hätten wir alle weniger Probleme.
Der britisch-schweizerische Philosoph de Botton hat sich der praktischen Lebensphilosophie verschrieben. Der widmet er sich nicht nur in seinen Büchern, sondern vor allem in seiner berühmten „School of Life“. In kurzen Youtube-Videos wird vermittelt, was in klassischen Bildungseinrichtungen nicht auf dem Lehrplan steht: Wie man ein gutes und erfülltes Leben führt. Behandelt werden unter anderem die Themen Karriere, Beziehungen und der Umgang mit Trauer. Zudem finden sich im Curriculum Kurzbiographien von Philosophen, Psychologen und Künstlern.
Dabei ist sich de Botton der Verlockungen des modernen Zeitalters durchaus bewusst. Denn welche Chance hat Literatur noch, wenn man am Computer „links eine Auswahl von Fotos mit Cheerleadern arrangieren und rechts einen Livechat mit einer grazilen, 25-jährigen Stangentänzerin führen kann?“
Wertvolle Ideen aus der Geschichte extrahieren
Cultural Mining, also das Auswählen und zeitgemäße Präsentieren von hilfreichen Ideen aus der Kulturgeschichte, erfreut sich in den letzten Jahren einer steigenden Beliebtheit. Philosophie-Magazine erzielen hohe Auflagen und mit Pop-Philosophen wie Richard David Precht halten große Themen Einzug in Talkshows und Bestsellerlisten. Was Adorno von solchen populärwissenschaftlichen Ansätzen gehalten hätte, ist unschwer zu erraten.
Doch de Botton hält an seinem Ansatz fest. Es sei einfach, zu ähnlich gebildeten Menschen zu sprechen, sagt er einmal der Neuen Zürcher Zeitung. „Aber in einer modernen demokratischen Gesellschaft muss man den Dialog öffnen.“ Trost in der Philosophie zu finden, sollte allen gleichermaßen möglich sein.
Mit Proust aus Fehlern lernen
Marcel Prousts 4.000 Seiten umfassendes Romanepos „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ etwa werden die wenigsten von uns jemals ganz lesen. Müssen sie auch nicht, würde Alain de Botton entgegnen. Er gibt die versteckten Weisheiten des Schriftstellers in seinem Buch „Wie Proust Ihr Leben verändert kann“ jedem an die Hand, der lernen möchte, wie man sich Zeit nimmt, Freundschaften pflegt oder richtig leidet.
Dieses Buch ist ein wunderbares Beispiel für de Bottons unstillbare kindliche Neugier und Liebe für die kleinen Dinge. Es ist verblüffend, so zeigt er uns, wie viel Lebensweisheit ein derart lebensuntauglicher Mann wie Proust besitzt, der seine Tage mit Croissants im Bett verbringt. Ungemein liebevoll lernen wir anhand der Fehler von Prousts Helden, auf „das unerwartete und verletzende Verhalten unserer Mitmenschen anders zu reagieren als mit dem [betont lässigen] Putzen unseres Monokels.“
Nervös aufs Smartphone zu tippen wäre wohl das heutige Äquivalent zu dieser Unart, kommentiert Anna Freud, Autorin von „Das Ich und die Abwehrmechanismen“, aus der Küche. Wer mag, kann sich übrigens auch ihre Ideen in einem Video der „School of Life“ erklären lassen.