„Die Materialität der Geschichte”

Was tragen die Ausgrabungen moderner Fundstücke zur Aufarbeitung der Vergangenheit bei? Im Offenen Hörsaal sucht Peregrina Walter nach Antworten und stößt dabei auf die dunkle Geschichte der Wünsdorfer Moschee.

Ausgrabung der Wünsdorfer Moschee. Quelle: Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologisches Landemuseum/Prof. Dr. Susan Pollock, Freie Universität Berlin

”Schätze”, “Sensationen”, “Spektakuläre Funde” – allein die Wortwahl in deutschen Zeitungen verdeutlicht, welch kollektive Faszination von den Ausgrabungen antiker Kulturen ausgeht. Doch es muss nicht immer das Pharaonengrab sein: auch die jüngere Geschichte wird archäologisch untersucht. Warum es da noch viel zu entdecken gibt, kann man aktuell im Offenen Hörsaal zur Welt der Archäologie erfahren.

Materie lügt nicht

„Moderne Ausgrabungen sind Wiederentdeckungen”, verdeutlicht Reinhard Bernbeck gleich zu Beginn der Vorlesung. Er ist Professor am Institut für Vorderasiatische Archäologie und war auch an den 2015 begonnenen Grabungen in der Harnackstraße beteiligt, bei denen menschliche Knochen gefunden wurden. Grabungen tragen essentiell zur Aufarbeitung der Geschichte bei. Zwar wissen Archäologen durch Überlieferungen in Schrift, Bild und Ton meist sehr präzise, wonach sie suchen. Doch gelegentlich täuschen Erzählungen und Darstellungen und hinterlassen Lücken. Archäologische Funde vermögen diese zu schließen, denn das Material lügt nicht.

Die Deutung moderner Objekte fällt allerdings oft schwer. Während Funde aus der Antike handgefertigt waren und Rückschlüsse auf die Herstellung  ermöglichten, sind moderne Gegenstände meist industriell hergestellt und damit für Archäologen weniger aussagekräftig. Zudem erlaubt der technische Fortschritt die Fertigung hochkomplexer Gegenstände, für deren Deutung Experten aus mehreren Fachgebieten hinzugezogen werden müssen.

Die erste deutsche Moschee

Bernbecks letzte Ausgrabung fand im Brandenburgischen Wünsdorf statt. Gemeinsam mit seiner Kollegin Prof. Susan Pollock barg er dort 2015 die Überreste der ersten deutschen Moschee. 100 Jahre zuvor, im Juli 1915, errichtete das Charlottenburger Unternehmen Stiebitz und Köpchen die Wünsdorfer Moschee für muslimische Kriegsgefangene des I. Weltkriegs.

Das sogenannte “Halbmondlager” war Teil einer Kriegsstrategie des Archäologen Max von Oppenheim: der sogenannte Deutsche Dschihad. Er wollte Muslime, die unter Kolonialherrschaft lebten, gegen die Kolonialmächte aufstacheln. Zu diesem Zweck behandelten die Deutschen muslimische Kriegsgefangene bevorzugt und wirkten ideologisch auf sie ein. Beides zielte darauf ab, die Insassen für die deutsche Seite zu gewinnen und sie zum Dschihad gegen feindliche Nationen zu bewegen. Doch das Vorhaben scheiterte.

Die Moschee, deren Bau aus Holz bloß zwei Wochen dauerte, blieb nach dem Krieg nur bis etwa 1928 bestehen. Anschließend baute man sie ab, um das Gelände für militärische Zwecken zu nutzen. An der Stelle befanden sich später sowohl das Oberkommando der deutschen Wehrmacht im II. Weltkrieg, als auch das der Nationalen Volksarmee der DDR.

Mehr als eine Lückenfüllerin

Die Vorlesung endet mit einem Plädoyer Bernbecks für die Archäologie: „Die Archäologie ist keine Lückenfüllerin, sondern die Materialität der Geschichte. Sie kann vergessene Orte wieder sichtbar machen.” Sie trage systematisch die Schichten der Zeit ab und müsse so gesellschaftliche Debatten über die historische Bedeutung dieser Orte anstoßen.

Auch die Grabungen in Wünsdorf haben eine Debatte angestoßen. Denn ausgerechnet auf dem Gelände der Wünsdorfer Moschee steht heute eine Erstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende. Noch vor der Eröffnung, am 16. Mai 2015, gab es dort einen rechtsextremistisch motivierten Brandanschlag. Die Einrichtung wird bis heute polizeilich streng bewacht.

Der Offene Hörsaal “Welt der Archäologie – Archäologie der Welt. Neue Ansätze und Perspektiven”findet mittwochs von 18-20 Uhr im Hörsaal 1b in der Rost- und Silberlaube statt. Das Programm findet ihr hier.

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