Die Wissenschaft ist reif für Zeiterfassung

Der Europäische Gerichtshof hat ein umstrittenes Gesetz zur Arbeitszeiterfassung beschlossen, was auch die Wissenschaft betrifft. Anabel Rother Godoy findet das Urteil mehr als überfällig und fordert die konsequente Umsetzung in der Praxis.

Mitte Mai hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein Urteil zur Arbeitszeiterfassung gefällt, das in deutschen Medien für viel Diskussionsstoff sorgt. Dabei klingt die Forderung der Richter*innen, wonach alle Überstunden erfasst und entsprechend vergütet werden sollen, vernünftig. Schließlich können Arbeitnehmer*innen so vor unbezahlter Mehrarbeit geschützt werden. Anscheinend wird diese Auffassung jedoch nicht in allen Ecken der Bundesrepublik vertreten. So verkündete beispielsweise die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, dass sie als Arbeitgeber*innen gegen die Arbeit nach Stechuhr seien. Verständlich in einem Land, welches in der Digitalisierung so weit zurückliegt, dass vielen Arbeitgeber*innen nur Stechuhren als Mittel zur Arbeitszeiterfassung einfallen.

Voller Einsatz für halbe Stellen

Von dem EuGH-Urteil ist auch die Wissenschaft betroffen. Dieser Bereich leistet notorisch Mehrarbeit: Besonders von Nachwuchswissenschaftler*innen wird oft erwartet, dass sie auch bei einer halben Stelle Vollzeit arbeiten.

Dabei leben wir in einer Gesellschaft, in der angeblich keine ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse mehr existieren. Es ist gesetzlich geregelt, dass es eine Vergütung für Überstunden gibt. Nur funktioniert diese Umsetzung in der Praxis oftmals nicht. Durch flexible Arbeitsmodelle und die ständige Erreichbarkeit verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben zunehmend und es wird zum unausgesprochenen Gesetz, auch nach der Arbeit schnell mal etwas zu erledigen, E-Mails zu beantworten oder kurz zu telefonieren, ohne dies als Überstunden zu notieren.

Wissenschaft (nicht) um jeden Preis

Der Europäische Gerichtshof legt die Verantwortung zur Überstunden-Erfassung nun in die Hände der Arbeitgeber*innen. Klingt gut, denn dann werden Arbeitnehmer*innen für Überstunden endlich gerecht vergütet und müssen dadurch in Zukunft weniger Mehrarbeit leisten. Der frühere FU-Präsident Peter-André Alt sieht das anders. Er argumentiert, dieses Urteil sei vor allem in der Wissenschaft nicht zeitgemäß. Es gäbe hier keine 9 to 5 Jobs, man sei ja oft in der Bibliothek oder auf Konferenzen. Dass gerade deswegen die genaue Arbeitszeiterfassung als Schutz für die Wissenschaftler*innen so wichtig ist, sieht Alt wohl nicht ein.

Mit der Erfassung der genauen Arbeitszeiten können Wissenschaftler*innen ihre Zusatzarbeit bezahlt bekommen und ihre geleistete Arbeitszeit besser im Blick behalten, was vor Überlastung und Ausbeutung schützen kann. Das würde Dozent*innen, wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen und studentischen Hilfskräften gut tun.

Schluss mit falschen Vorwänden

Schon Karl Marx schrieb: “Die Arbeit ist also eine Ware, die ihr Besitzer, der Lohnarbeiter, an das Kapital verkauft. Warum verkauft er sie? Um zu leben.” Es muss aufhören, dass Mitarbeiter*innen die Ware der Arbeit unter dem Vorwand der Flexibilität einfach verschenken.

Wenn laut Peter-André Alt die klassische Form der Arbeitszeiterfassung im 9 to 5-Stil zu veraltet ist, um auf die heutige Arbeitswelt angewandt zu werden, müssen eben neue Formen zur Erfassung her. Zum Beispiel mittels Smartphones, die selbst im digitalen Rückstands-Deutschland fast jede*r Arbeitnehmer*in besitzt. Mittlerweile gibt es viele kostenfreie Apps, die Arbeitszeiten schnell und unkompliziert erfassen, ganz ohne Stechuhr. Hauptsache es ist endlich Schluss mit faulen Ausreden, die Angestellten das Recht auf korrekte Vergütung absprechen. Ja, auch in der Wissenschaft.

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