FURIOS im Kaff: Geschichte schreiben

Dorfleben ist langweilig? Julian von Bülow hält den Städter*innen Wölfe, Cannabis-Plantagen, Atommülltransporte und Granatsplitter entgegen.

Symbolbild: Castoreinsatz 2011 bei Harlingen. Foto: Philipp Breu. CC-BY-2.0. Bildausschnitt.

In Schrittgeschwindigkeit rollt der Zug über die rostigen Gleise, zwei lange Schlangen an Polizeibeamt*innen neben ihm. Zu nah ran möchte da niemand. Die strahlende Fracht hat Tage gebraucht, um sich endlich durch dieses kleine Kaff zu schieben. Der Atommüll fährt durch mein Dorf, Wendisch Evern.

Seit ein paar Jahren wohne ich nun in Großstädten. Dort heißt es oft, Dorfleben sei so langweilig, dass sich die Landleute ständig betrinken. Wer im Ort keinen Supermarkt, Geldautomaten oder irgendwas außer einem Kaugummiautomaten hat, muss sich zu beschäftigen wissen. Kein Problem! Hier hat man die Anbindung an die Wendlandbahn. Dass die noch nicht stillgelegt ist, hat seinen Grund.

Die Deutsch-Französische Zugverspätung

Seit 1995 rollten immer wieder Züge mit radioaktivem Müll nach Gorleben – und damit durch Wendisch Evern. Das ist ein Spektakel für das ganze Dorf! Aktivist*innen reisen an, bauen Protestcamps auf dem Acker und die Polizei befürchtet stets, dass alle gleich auf die Gleise rennen (wollen sie!). Mein erster Liveticker war der mit Castor-Blockademeldungen aus Frankreich und Deutschland. Wenn der verhasste Atommüll schon durch die Lande rollt, soll durch die Blockaden zumindest der Transport so teuer wie möglich werden – als Zeichen des Widerstands. Wer zu dieser Zeit ins Dorf wollte, musste der Polizei mit Perso nachweisen, dass er*sie hier wohnte.

Doch auch zu anderen Anlässen begab sich die Polizei in den Wald. 2010 entdeckte sie dort eine Cannabis-Plantage. Das Gras mag seitdem verschwunden sein, dafür kann man jetzt Wölfe ums Dorf sichten. Wer mal wieder Pilze auf dem Truppenübungsgelände der Bundeswehr im Wald sammelt, kann neben blauen Granatsplittern vielleicht auch ihre Spuren entdecken. Es ist also Vorsicht geboten!

Weltgeschichte bei Wald und Wiesen

Nervt es dann aber doch zu sehr, dass am Samstagnachmittag die Soldat*innen die ganze Zeit im Wald rumballern, geht man eben geocachen. Die gewieften Jäger*innen und Sammler*innen neuer Erfahrungen können dann einen alten Flak-Stützpunkt entdecken! Doch wird es zunehmend unbequemer, dort hinzugehen, wo man früher alliierte Flieger abgeschossen hat: Nun wuchert dort die bis zu drei Meter hohe Giftpflanze des Jahres 2008. Der invasive Riesen-Bärklau kann bei Berührung und nachträglicher Sonneneinstrahlung verbrennungsähnliche Symptome hervorrufen. Dorf-Dschungel halt.

Dann geht man lieber zum Hügel nebenan. Auf dem Timeloberg haben am 4. Mai 1945 die Deutschen den Briten die Teilkapitulation unterzeichnet. Der Anfang vom Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa wurde bei Wendisch Evern eingeleitet. Nimm das, Berlin-Karlshorst!

Heute in friedvolleren Zeiten gibt es andere, fest verankerte Jahreshöhepunkte: Die Weihnachtsausstellung mit Bienenwachskerzen und Sanddornkosmetik, der Marsch der Dorfmilitanz (Schützenfest), das SPD-Grillfest, das Abfackeln der Weihnachtsbäume beim Osterfeuer, die blaugelbe Nacht des Sportvereins. Da fließt Ethanol dann doch. Aber erzählt ihr Späti-verwöhnten Sterni-Fänger*innen nicht, dass euch das nicht gefallen würde.

Autor*in

Julian von Bülow

interessiert sich für Politik, Geschichte und Technik. Freier Journalist für Text, Audio und Video. Auf Mastodon und Bluesky erreichbar.

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