Furios forscht: Büsche und Perücken

Statt zu 90s-Pop zu tanzen hat Antonia Böker am Pride-Wochenende für euch geforscht: Ihre Feldstudie auf einem Drag-Festival hat sie genauestens dokumentiert.

Meine Sicht ist verschwommen. Heißer Schweiß läuft mir Stirn und Schläfen herunter, tropft in meine Augen. Verzweifelt blicke ich mich nach meinen Begleiter*innen um. Rufen kann ich sie nicht, mein Hals ist zu trocken. Ich bringe kein Wort heraus. Dann schreitet sie an mir vorbei, wie eine Erscheinung. Groß ist sie; blond, fast scheinen ihre Absätze über dem Boden zu schweben. Kein einziger Schweißtropfen auf ihrer Stirn, kein Haar ist nicht an Ort und Stelle. Haben sich so die Hirten gefühlt, als ihnen der Erzengel Gabriel erschien? Mir kommt eine Idee.

Bush-was?

Wir, sie und ich, befinden uns im Festsaal Kreuzberg. Neben uns hundert Dragqueens und -kings und jene, die sie sehen wollen. Zu letzteren gehöre ich, zu ersteren sie. Wir alle sind hier für das Bushwig-Festival, das zum zweiten Mal in Berlin stattfindet. Ursprünglich kommt es aus New York, ist benannt nach dem New Yorker Stadtteil. Wig, nicht wick, heißt es hier –nun ja, weil Perücken eben. Denn das Bushwig ist ein Drag-Festival. Am Pride-Wochenende laden die Veranstalter*innen ein, einer Vielzahl von Artists aus aller Welt zuzusehen. Ich bin heute, anders als im letzten Jahr, nicht nur hier, um zu den Songs der Pop-Ikonen der letzten 50 Jahre zu tanzen. Ich bin hier im Dienste der Wissenschaft.

Zugegebenermaßen: Das Ticket hatte ich lange vor meinem Forschungsauftrag. Auf wissenschaftlich heißt das, glaube ich: Offenlegen von Befangenheit. Lange habe ich mich gefreut, nun ist das Bushwig hier – und heiß. Während ich mir minutiös hektisch den Schweiß von Stirn, Kinn und Nacken wische, trotzen die Drag-Künstler*innen, in Strumpfhosen, Perücken und Ganzkörper Make Up gehüllt, der Hitze würdevoll.

Nicht-hetero Heterotopie

Natürlich weiß jede*r: Dragkünstler*innen sind magisch. Schulterzuckend stellen sie Vorstellungen über Geschlecht und Identität in Frage, sind Pfeiler der LGBTQI-Community, verkörpern wie kaum ein*e andere*r die Essenz dessen, was queer bedeutet. Dragshows sind der Inbegriff der Heterotopie (Foucault, 1967, S. 3) – nach Foucault Räume mit ganz eigenen Regeln. Räume für Menschen wie mich, und auch Menschen, die ganz anders sind. Das ist alles, was ich aus zwei Semestern Sozial- und Kulturanthropologie behalten habe. Das, und den Term „Teilnehmende Beobachtung“. Eine solche führe ich nun durch. Das heißt: Mitmachen, aufschreiben, im Prozess Thesen generieren und vor allem: mit den Beobachtungssubjekten etwas trinken.

Zum Forschen gehört natürlich auch, als Forscher*in den eigenen Standpunkt zu reflektieren. Mein Stand: wackelig. Akute Dehydrierung mit Mexikaner bekämpfen zu wollen, hat sich als unwirksam erwiesen. Mein Forschungsdesign ist also nicht-experimentell angelegt. Ich kontrolliere keine Variablen mehr, sie kontrollieren mich.

Voll angepasst

Es geht bei meiner Forschung schließlich letztlich um eines: Adaptionsfähigkeit. Darum, wie es gelingt, sich in Zeiten von potenziellen  4 Grad Erderwärmung an eine völlig neue Klimazone anzupassen. Meine ersten Forschungsergebnisse suggerieren dabei: Die Adaptionsfähigkeit von Drag Artists überschreitet die von immunschwachen Campusjournalist*innen bei weitem. Wer hätte das gedacht…

Adaptionsfähigkeit messe ich als Performance in Abhängigkeit von Hitze. Performance an der Lautstärke der Menge und den Reaktionen meiner Begleitung. Jojo und Emily haben jede Folge RuPauls Drag Race öfter gesehen, als du Scrubs oder Grey’s Anatomy, und weisen deshalb die nötigen fachlichen Qualifikationen auf. Erfahrungsgemäß liegt bei den beiden stets eine hohe Intercodervalidität vor. Die Hitze messe ich an der Frequenz, mit der meine Hand zum Wischen ansetzt.

Dann wird es noch heißer. Das Scheinwerferlicht trägt nichts zur Raumerfrischung bei, Emily kommt bereits das dritte Mal mit Leitungswasser von der Bar zurück. Ich beginne, mental meine Hinterlassenschaften aufzuteilen. Warm also. Und trotzdem: Die Künstler*innen scheinen von all dem nichts mitzubekommen. Eine*r nach der*dem anderen performen sie ihre Shows, sind urkomisch, sind politisch.

Drag gut, alles gut

Sie springen aus dem Stand in den Spagat, reißen sich Perücken vom Kopf und drehen sich in selbstgefertigten Leuchtkleidern. Einige Lipsincen zu Kim Petras und Co., andere kritisieren die Schampolitik der katholischen Kirche, indem sie sich Nonnenkleider vom Leibe reißen und in Teufelmontur zu “Original Sin” über die Bühne stolzieren. Zwischendrin sprechen die Moderator*innen, selbst Dragkünstler*innen, über den Brexit, Trump oder Männersaunas. Mein Forschungsteam ist mit so viel Herzblut dabei, dass man meinen könnte, sie wären aus Eigeninteresse hier. Als eine Dragqueen in Silikonmaske die Bühne betritt, um wenig später mit einer Leuchtkerze im Hintern zu twerken, scheint das Urteil gefallen.

Man ist sich einig: Unsere Hypothese kann beibehalten werden. Dragkünstler*innen können alles überdauern. Zwecks intersubjektiver Nachvollziehbarkeit habe ich den Forschungsprozess aber genauestens dokumentiert. Überprüft das also ruhig selbst.

Autor*in

Antonia Böker

Antonia Böker ist pathologische Klugscheißerin. Deswegen probiert sie es jetzt mal mit Journalismus.

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