Das Juwel einer gespaltenen Stadt

In Jerusalem scheint vieles entweder richtig oder falsch, weiß oder schwarz, gut oder böse zu sein. Julia Marie Wittorf hat während ihres Auslandssemesters unerwartete Zwischentöne an der Hebrew University gefunden.

Bild von Jerusalem
Auch an Jerusalems Schattenseiten gibt es hin und wieder Lichtblicke. Foto: Julia Marie WIttorf

Der Bus stoppt am Sicherheitsposten vor dem Unigelände. Während Wachleute sich durch den vollgestellten Gang hangeln, streifen ihre Blicke über uns Studierende. Draußen ziehen lange Warteschlangen langsam durch die Sicherheitsscanner. Es ist eine tägliche Choreografie mit monotoner Abfolge, niemand tanzt hier aus der Reihe. Ich gehe hinaus in den grünen Innenhof des Hauptgebäudes, umgeben von großen schattenspendenden Bäumen. Darunter sitzen unzählige Studierende, die ihre letzten Minuten Pause bei einem Kaffee genießen.

Man gewöhnt sich schnell an solche Routinen, wenn man die Ursache dieser Kontrollen kennt. Im Juli 2002 zerstörte ein Bombenanschlag der palästinensischen Terrororganisation Hamas die vermeintliche Idylle auf dem Campus der Hebrew University of Jerusalem (HUJI). Der seit Jahrzehnten brodelnde Nahostkonflikt zwischen Israelis und Palästinenser*innen macht auch vor den Toren dieser Universität nicht Halt.

Während erstere sich ihren lang ersehnten Nationalstaat nicht mehr nehmen lassen wollen, wehren sich letztere gegen die zunehmende Verdrängung – zum Teil auch mit terroristischen Mitteln. Diesen gesellschaftlichen und politischen Kampf konnte ich als Austauschstudentin in Jerusalem ein Semester lang vor Ort erleben.

Die HUJI ist das stolze Herz der Wissenschaft in Jerusalem, eine pulsierende Ader der Stadt. Besonders der Campus auf dem Mount Scopus war ein Meilenstein auf dem Weg zur Gründung Israels im Jahr 1948. Den ersten Schritt machten Emigrant*innen, welche nach dem ersten Weltkrieg wegen zunehmendem Antisemitismus aus Osteuropa in das damals noch britische Mandatsgebiet flohen. Neben der dort lebenden arabischstämmigen Bevölkerung formierte sich schnell eine Gemeinde, die das Fundament für eine erste hebräisch-jüdische Kultur bildete. Die Lehrstätte, die bereits 1925 errichtet wurde, war dabei Teil der Idee eines eigenen jüdischen Staates.

Die Türen dieser historischen Institution öffnen sich aber nicht für alle Studierenden gleich weit. In Ost-Jerusalem gehen nach Angaben des Jerusalem Institute for Policy Research knapp 110.000 Kinder zur Schule. Deren Schulabschlüsse entsprechen jedoch nicht den israelischen Standards. Wer später eine weiterführende Hochschule besuchen möchte, muss ein kostspieliges vorbereitendes Jahr an meiner Fakultät, der Rothberg International School, absolvieren. Ohne finanzielle Unterstützung ist das für die Wenigsten möglich. Die Zukunftschancen der Kinder hängen daher von Fördermitteln ab. Bei lediglich 140 vergebenen HUJI-Stipendien 2017 – ohne anschließende Garantie auf einen Studienplatz – erscheint dies wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Vor dem Hintergrund dieses Missstands nehme ich meine doppelt privilegierte Position als deutsche Erasmus-Studentin umso deutlicher wahr.

Noch wertvoller als der Zugang zur HUJI erscheint daher das friedliche Zusammenleben innerhalb dieser Hochschulblase. Als einzige Austauschstudentin in einem Kurs mit arabischen und jüdischen Kommiliton*innen fühle ich mich nicht zwischen zwei Fronten gesetzt, obgleich die echte Front nur einen Steinwurf vom Campus entfernt liegt. Israel hatte den von Palästinenser*innen bewohnten Ostteil der Stadt 1980 annektiert, heftiger internationaler Kritik zum Trotz. Von dem starken alltäglichen Spannungsverhältnis ist auf dieser akademischen Insel jedoch nichts zu spüren. Stattdessen wehen in meinen Kurs über zeitgenössischen Antisemitismus die lauten Gesänge der Muezzins durchs Fenster, die ihre muslimischen Glaubensbrüder und -schwestern zum Gebet bitten.

Austauschstudierende aus Singapur, Argentinien, Dänemark oder England versuchen sich täglich im Verständnis für die Ursprünge der örtlichen Spannungsverhältnisse. Manche sind jüdischen, andere christlichen Glaubens und einige ganz ohne Bezug zu Religion. Die Anti-Terror-Dozentin kann aufgrund posttraumatischer Belastungsstörungen durch palästinensische Selbstmordanschläge nur noch bei offenem Fenster lehren. Mein 19-jähriger amerikanischer Sitznachbar, dessen Großeltern den Holocaust überlebt haben, hegt den festen Wunsch nach Aliyah – der Einwanderung nach Israel. Mein israelischer Mitbewohner hat den Libanon-Krieg nicht nur miterlebt – er kämpfte 2006 direkt an der Front. Fast alle verkörpern hier somit einen Bruchteil der örtlichen Gegensätze, Widersprüche inklusive.

Mein anfänglicher Selbstversuch, mich bei meinen Reisen als »unabhängige Deutsche« zu positionieren, stellt sich schon früh als völlig illusorisch heraus, als mir ein Araber nahe Nazareth den Hitlergruß zeigt. »Germany good, Hitler good. You welcome« sagt er zu mir. In der nachfolgenden Stille weicht der Schock unter uns Tourist*innen einem zögerlichen Protest. Doch Grundsatzdiskussionen führen hier zu nichts. Mein arabischer Gemüsehändler Chalil verhält sich dagegen ganz anders: Mit 14 Jahren hat er begonnen, im Geschäft seines Vaters auf dem berühmten Mahane Yehuda Markt in Jerusalem auszuhelfen. Fast täglich steht er seitdem mit Zigarette und Kaffee hinter der kleinen Theke. In fließendem Hebräisch begrüßt er die jüdischen Käufer*innen, verliert nie ein böses, maximal ein schelmisches Wort über sie. Scherzt er das eine Mal über die koscheren Essgewohnheiten jüdischer Kund*innen, bekommen seine muslimischen Landsleute spätestens beim Alkoholverbot ihr Fett weg.

Diese Alltäglichkeit macht Hoffnung, wirkt aber auch bisweilen surreal. Denn nur zehn Kilometer entfernt von meinem Campus verläuft bei Bethlehem die Grenzmauer zu Palästina. Stacheldrahtzaun, Sensoren und Sicherheitskameras behalten die Gegend im Blick und die Menschen hier unter Kontrolle. Jugendliche haben die neun Meter hohe Wand mit Graffitis und politischen Statements besprüht – ein trotziger Versuch, gegen die graue Tristesse anzukämpfen. Und so manch ein*e Palästinenser*in vergleicht diesen Ort sarkastisch aber auch ein wenig stolz mit der East Side Gallery in Berlin.

Wie lässt sich in diesen beiden Ländern die Zukunft planen, wenn der Alltag im ständig schwelenden Konflikt schon so viele Hürden mit sich bringt? Während ich einem palästinensischen Jungen beim Graffitisprühen zuschaue, erinnere ich mich an den Satz einer Freundin, kurz vor meinem Abflug aus Deutschland: »Vor allem wirst du verstehen, dass du rein gar nichts verstanden hast.« Wie recht sie behalten hat.

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