Furios vögelt: Vom Horst zum Vogel

Ein Vogel schlüpft nicht aus dem Ei und erhebt sich direkt in die Lüfte. Fliegen will gelernt sein – das hat Elias Fischer für euch am eigenen Leibe erfahren.

Flieger, grüß mir die Sonne! Foto: Pixabay

Ich stehe in einer prunkvollen Baumkrone. 50 Höhenmeter trennen mich von einer Fußballfeldgroßen Ebene, die ihr jähes Ende in einer gewaltigen Talschlucht findet. Erst vor sechs Tagen pellte ich mich mühselig aus meiner Schale. Jetzt ticken nur noch wenige Sekunden bis zu meinem ersten Flugversuch. Meine Beine sind Wackelpudding, meine frisch gewachsenen Hosen voll. Über mir kreist in der aufsteigenden Warmluft geduldig eine Armada von Geiern, die nach einem Fehlstart und dem damit gleichbedeutenden letzten Atemzug meinerseits lechzt. Denn von Zeit zu Zeit missglückte meinen Ahnen die Luftbühnenouvertüre und so bescherten sie den gnadenlosen Nutznießern ein Festmahl. 

Doch die Gier der Geier nach Aas treibt mich an. Ich werde heute nicht ihren Gaumen streifen! Ich richte mich zu voller Größe auf. Ich spanne meine bereits jetzt schon beeindruckende, 16 Quadratmeter umfassende Tragfläche, während der Wind sich an meinem Schnabel spaltet und am Hinterkopf wieder verschmilzt. Optimale Startbedingungen. Konzentriert schiebe ich einen Lauf vor den anderen. Meine Augen fixieren eine Baumreihe am Rande der Ebene. Meine Brustfedern vibrieren im Takt meines dumpfen, kräftigen Herzschlags. Ich beschleunige; spüre, wie mein Körper nach und nach an Schwere verliert, wie meine Krallen keine Furchen mehr in die holzigen Achsen meines Geburtsbaumes schlagen. Dann rotieren meine Läufe gänzlich über den Ästen – ohne jeglichen Kontakt zum Wipfel. Ich fliege. Zum ersten Mal in meinem Leben. Getragen von der Luftumströmung meiner Flügeldecken. Ab jetzt: Herr Kaiseradler, bitte.

Der Boden der Tatdrache

Nach dem kurzen Realitätsverlust setzt bei der geglückten Landung langsam die Klarheit ein. Es war nur eine intensive Symbiose mit einem Hängegleiter, auch Drachen genannt, in der ich mich für einige Sekunden tatsächlich wie die weiße Taube unter den bedrohlichen, feuerspuckenden Fabelwesen oder wie ein majestätischer Greifvogel gefühlt habe. Ein Einführungs- und ein darauf aufbauender Grundkurs an der Drachenflugschule Cabrières – angeboten im Programm des Uni-Sports – in der vorlesungsfreien Zeit ermöglichten diese fantastische Drachen-Mensch-Grenzerfahrung. 14 Tage habe ich dazu in einem Horst in einer hochgelegenen Idylle bei Millau in Südfrankreich mit 15 anderen Küken verbracht.

An jedem der Tage traten wir in aller Herrgottsfrühe gemeinsam die Reise zum Übungsgelände, dem Hang Solacrop, an. Dort lehrten uns unsere Ziehadlereltern geduldig, wie Schrittrhythmus, Körperschwerpunkt und Flügelausrichtung – ok, ok: Grifftechnik am Fluggerät – in Einklang gebracht werden müssen, um den Lebensraum am Boden erfolgreich zu verlassen. In Ergänzung zu den Motorikschulungen brachten die gefiederten Professor*innen uns Jungvögeln an ruhigen Nachmittagen die richtigen Wind- und Wetterverhältnisse, Vorfahrtsregeln auf Drachenstraßen, Anatomie und Biomechanik unserer Flügel sowie  korrekte Reaktionen auf Flugfehler näher – oder anders: Meteorologie, Luftrecht, Material und Technik des Hängegleiters und Verhalten in besonderen Situationen.

Nach sechs Tagen fanden wir Pilotenaspirant*innen uns endlich am höchsten Punkt des Übungshanges wieder. Nachdem wir die ersten Tage Windverhältnisse unterschätzt, den Körperschwerpunkt falsch verlagert, Geschwindigkeiten sowie Distanzen über- und unterschritten, aber auch die eigene kognitive Aufnahmefähigkeit und physische Ausdauer überstrapaziert hatten, bewerteten die sehr gewissenhaften Flugmentor*innen unsere Entwicklungen an den Tagen vier, fünf und sechs als zufriedenstellend. Am siebenten Tage schoben wir also keinen christlichen Lenz, sondern erhielten die Freigabe zum aktiven Fliegen vom Gipfel Solacrops, meiner halluzinierten Baumkrone.

Weit über zwanzigmal erhoben sich einige von uns in den folgenden Tagen, um das Ziel am Ende der zweiten Woche zu erreichen: den L-Schein. Der L-Schein berechtigt die*den Träger*in dazu, an jeder anderen Drachenflugschule den Höhenflugkurs zu absolvieren, an dessen Ende der A-Schein steht: die Lizenz zum Fliegen. Allein. (Fast) überall. 

Nach 2 Wochen darf ich mich einen stolzen Besitzer eines L-Scheins schimpfen – der Aufnahme in den Reigen der Drachenpilot*innen bin ich damit ein Deut näher. Glaubt mir, wenn ich euch sage, dass die ersten Meter in der Luft eure Mundwinkel oberhalb der Wangenknochen verschrauben werden. Nächste Mission: Frei. Freier. Fliegen.

Wer mehr erfahren möchte, wendet sich an den Unisport oder direkt an die Flugschule

Autor*in

Elias Fischer

Seine Männlichkeit passt nicht ganz in den Bildausschnitt.

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