Sie sind fester Bestandteil in Sagen aller Kulturen: böse Hexen. Das Berliner Universitätsorchester Collegium Musicum führte nun eine sinfonische Schauergeschichte über eine mörderische Hexe auf. Ein Rückblick von Julian Sadeghi.
Die ländlich böhmische Idylle ist trügerisch. Gerade noch trällerten die Töne harmonisch vor sich hin, glitten geschmeidig durch die vollbesetzte Kirche „Zum Guten Hirten” in Friedenau. Keine fünf Sekunden später rumort es heftig. Könnte der Resonanzkörper Kirchenschiff beben – er täte es, genau jetzt. Doch wo befindet sich das Epizentrum des Bebens? Es liegt in den Instrumenten des kleinen sinfonischen Orchesters des Collegium Musicum, des gemeinsamen Ensembles der Technischen Universität und der Freien Universität. Die Musiker*innen unter der Leitung von Donka Miteva gaben zum Semesterabschluss einen Querschnitt ihres Könnens zum Besten, allen voran das Stück „Die Mittagshexe” von Antonin Dvořák.
Um diesen musikalischen Fixpunkt herum überzeugte das Collegium mit zwei weiteren Stücken. Einerseits spielte es Dvořáks 8. Symphonie, andererseits wurde „Finlandia“ aufgeführt: Ein von Jean Sibelius komponiertes Stück, das um 1900, zur Zeit der russischen Besetzung Finnlands, zur geheimen Nationalhymne der Widerstandskämpfer*innen mutierte. Und in der Tat, die Wut und Erregung der Finn*innen jener Zeit ist in jedem Ton zu spüren, pathetischer Nationalstolz trifft fennoskandinavisch-kühle Eleganz.
Eine slawische Sage – dramatisch vertont
Der musikalische Leuchtturm des Abends hieß jedoch: „Die Mittagshexe“. Das Stück ist eine sinfonische Dichtung und es fällt nicht schwer, die Ballade des Schriftstellers Karel Jaromir Erben in der Interpretation des Orchesters wiederzuerkennen.
Der Plot, einfach wie tiefschürfend, erinnert an eine Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe. Im ländlichen Böhmen plätschert das vormittägliche Dasein in C-Dur dahin. Das Kind ist ins Spiel versunken, die Mutter mit Hausarbeit beschäftigt. Plötzlich beginnt das Kind zu quengeln – die Oboe prescht nörgelnd in den Vordergrund. Die Mutter, erzürnt ob des abrupten Endes der friedlichen Stimmung, schimpft – die Streicher*innen streichen erbost in as-Moll, es bebt.
Die Mutter ruft in ihrem Zorn nach der Mittagshexe. Die ist eine slawische Sagengestalt, die für gewöhnlich zur Mittagszeit erscheint. Sie benebelt den Verstand der Menschen und schneidet ihnen dann mit der Sichel den Kopf ab – schaurig-schöne Grausamkeit.
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif
Es folgt der Auftritt der Mittagshexe: Sie schwebt in Form von Bassklarinette und Fagott über die böhmischen Wiesen, getragen von einem spannungsgeladenen Klangteppich aus Streichinstrumenten. Nebel scheint sie einzuhüllen, die Stimmung ist mystisch. Durch die Akustik der Kirche wirkt es, als kämen die Töne aus allen Richtungen. Die Bassklarinette transportiert die Bösartigkeit des Augenblicks perfekt.
Angekommen am Ort des Geschehens beginnt die Masche der Hexe. Mehr als drei Minuten lang lässt die Klarinettistin sie herumtänzeln: sich aufspielend, anschließend nach dem Kind greifend. Die Töne wirbeln um die Ohren des Publikums. Dann plötzlich Stille. Die wehleidige Oboe verkörpert das im Sterben liegende Kind, die Atemzüge sind schwach. Erneuter Bruch: Die Streicher*innen übernehmen das Ruder, hohe Töne durchfluten die Kirche, vor dem inneren Auge öffnet sich der Himmel in gelbem gleißenden Licht und hebt das Kind zu sich hinauf. Das Stück endet fulminant unter Einbindung des ganzen Orchesters mit dem bitterbösen, triumphal-höhnischen Gelächter der Hexe. Alles verloren in der böhmischen Idylle.
Die nächsten Konzerte des Collegium Musicum finden Mitte Februar statt. Infos: www.collegium-musicum-berlin.de