Kevin Kühnert – »Die Jusos sind nicht die Utopieabteilung der SPD«

Kevin Kühnert schmiss sein Publizistikstudium an der FU für einen Job im Callcenter und das Engagement bei den Jusos. Heute ist er SPD-Vorstandsmitglied und einer der gefragtesten Politiker des Landes – trotzdem behält er sein Image als der junge Typ im Hoodie. Ein Porträt.

Foto: Tim Gassauer

»Darf ich fragen, mit wem ihr da gerade gesprochen habt?«, wird uns die Kellnerin nach unserem Treffen mit Kevin Kühnert fragen. Der Mann, der seit zwei Jahren immer wieder in den Schlagzeilen auftaucht und mittlerweile zum Inventar der großen deutschen Polit-Talkshows gehört, fällt kaum auf, als er in seiner schwarzen Softshelljacke in das Café in Berlin-Friedenau stolpert.

Ein paar Straßen weiter wohnt der Vorsitzende der Jungsozialist*innen seit sieben Jahren in einer WG. Hier, im Bezirk Tempelhof-Schöneberg, ist Kühnert aufgewachsen. Hier mischte er jahrelang in der Lokalpolitik mit, und so nickt ihm später auf dem Markt vor dem Café immerhin ein alter Bekannter im Vorübergehen zu. 

Kühnert, der im Alter von 15 Jahren in die SPD eintrat und im Herbst 2017 den Juso-Vorsitz übernahm, rekapituliert seinen schlagartigen Aufstieg in die Bundespolitik nach wie vor mit einiger Verwunderung: »Das muss man sich einfach mal klar machen!« Nach der verlorenen Bundestagswahl stellen sich die Sozialdemokrat*innen gerade darauf ein, nun erst mal die eigenen Wunden lecken zu dürfen. »Wir gingen davon aus, die Jugendorganisation einer Oppositionspartei zu sein«, erinnert sich Kühnert.

Doch dann wird im November 2017 das Scheitern der Koalitionsverhandlungen von CDU/CSU, Grünen und FDP bekanntgegeben. Durch das starke Ergebnis der AfD sind die Mehrheiten im demokratischen Spektrum geschwächt. Die kränkelnde Volkspartei SPD wird plötzlich an ihre historische staatstragende Pflicht erinnert. Doch während sich die Parteiführung an den Verhandlungstisch hievt, treiben die Jusos und der linke Parteiflügel die »NoGroko«-Kampagne voran. Aus dem Riss in der SPD schießt Kevin Kühnert empor. Er tourt unermüdlich durch die Republik, debattiert mit Befürworter*innen einer Erneuerung des alten Koalitionsbündnisses. In seinen Reden faucht er scharf gegen die Agenda 2010 der Schröder-Jahre und agitiert für eine Linkswende – aus den wohlgeformten Sätzen werden Tagesschaueinspieler und Twitterclips, und plötzlich ist Kühnert weit über die eigene Partei hinaus bekannt. 

Es geht nicht darum, irgendwann mal einen halben Stalinismus gefordert zu haben.”

Kühnikev, wie er sich auf Twitter nennt, steht für eine neue Generation der Jusos. Während Schröder und Scholz in den 1970er Jahren noch versuchten, sich in marxistischer Theoriefestigkeit zu überbieten, seien die Jusos heute konstruktiver geworden, meint Kühnert. »Es geht nicht darum, irgendwann mal einen halben Stalinismus gefordert zu haben – und später über die eigene Jugend zu sprechen, als sei das eine blöde Zeit gewesen und jetzt käme die richtige Politik. Eigentlich geht es darum, dass das eine logische Linie ist.« Zwischen der »großen Politik« und dem Nachwuchs gebe es heute keinen unüberwindbaren Spalt mehr.

Dennoch gehen die Jungsozialist*innen vielen Alteingesessenen in der Partei auf die Nerven. Für Kühnert ein gutes Zeichen: Das zeige die wachsende Bedeutung der Jugendorganisation für die Partei. »Wir sind keine komplette Utopieabteilung, aber dafür sind wir in der Lage, auch wirklich auf Politik Einfluss zu nehmen.« Kühnert spricht im Plural – doch er meint sich selbst. In Wahrheit ist er das alleinige Gesicht der Jugendorganisation, blass wirken seine Vorgänger*innen im Vergleich.

Foto: Tim Gassauer

Nicht immer wollte sich der 30-Jährige rund um die Uhr der Politik widmen. Vage schwebt ihm einst der Berufswunsch des Journalisten vor. Weil er wegen seiner Abiturnote abgelehnt wird, klagt er sich 2009 in den Studiengang Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der FU ein. »Viele berichten von ihrem Studieneinstieg als einen Moment, in dem man eine neue Welt erschließt, wo sich neue Horizonte eröffnen.« Doch Kühnert hat all das bereits bei den Jusos erlebt, bei denen er sich weiterhin engagiert und für die er das Studium oftmals vergisst, bis er es endgültig schmeißt. Später beginnt er ein Politikstudium an der Fernuniversität Hagen, das mittlerweile ebenfalls ruht. 

Nebenher jobbt Kühnert drei Jahre lang in einem Callcenter in Berlin-Kreuzberg. Dort nimmt er für ein Tochterunternehmen des Otto-Konzerns Kundenanfragen entgegen und lernt den Niedriglohnsektor kennen: Schlechte Arbeitsbedingungen, versehen mit einem Hauch von Start-up-Illusion; kein Betriebsrat, dafür Kaffeevollautomat und Tischkicker. Die Zeit habe ihn politisch geprägt, erzählt er.

Ich zwinge mich, so oft es geht, in Welten zu gehen, die nicht meine sind.”

Heute pendelt Kühnert zwischen der Diskussion mit Schüler*innen an einer Stuttgarter Schule, dem Heringsessen in Brandenburg und der Talkrunde bei Anne Will –  »alle[m], was zu so einer Partei halt gehört.« Die Kunst sei es, aus der Menge an Einladungen die richtige Mischung zu finden: »Meine Lebensrealität ist Berlin, kosmopolitisch, weltoffen, junge Leute um mich herum. Also zwinge ich mich, so oft es geht, in Welten zu gehen, die nicht meine sind«, sagt Kühnert. Deswegen hätten Ost-Anfragen und ländliche Räume für ihn Vorrang, große Städte kenne er ja schon. 

Die Sozialdemokrat*innen schwelgen gerne in Nostalgie für die großen Altkanzler. Während die Umfragewerte der Partei fallen, wächst die Sehnsucht nach einer neuen Galionsfigur. Aus der Riege Willy Brandts und Helmut Schmidts fällt der quirlige 30-Jährige aber definitiv raus. Kapuzenpulli statt Nadelstreifen, Gender statt Machismo. Bodenständigkeit ist seine Marke. Sie zieht sich durch seine Politik, hinein in das persönliche Auftreten. Kühnert betont gerne, dass er seine Zeit lieber im Lichtenrader Vereinsheim als im Allianzforum am Pariser Platz verbringe. Sorgsam pflegt er das Bild des uneitlen Politikers. 

Das kommt an in der SPD. Als es 2019 daran ging, ein neues Sozialstaatskonzept zu erarbeiten, holte die damalige Parteivorsitzende Andrea Nahles Kühnert mit an den Tisch. Nachdem er im Wettstreit um den Parteivorsitz eine eigene Kandidatur ausgeschlossen hatte, sitzt er seit vergangenem Dezember immerhin im Vorstand. Die Jusos haben an Einfluss gewonnen, genau wie Kühnert selbst. Doch statt Anzug trägt er weiter Jutebeutel zur praktischen Regenjacke und schlappt beinahe unerkannt über den Friedenauer Markt.

Das Porträt erschien in unserem neuen Heft »Druck« in der Rubrik des »Ewigen Ehemaligen«. Das Heft liegt ab sofort überall auf dem Campus aus.

Autor*innen

Josefine Strauß

Kann Dinge besser aufschreiben als aussprechen.

Leon Holly

On the write side of History. @LeonHolly_

Jette Wiese

Lieber lange Wörter als Langeweile.

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