Schicht im Schacht

Wer sich momentan so langsam eingesperrt fühlt, kann sich jetzt auf Netflix den spanischen Science-Fiction-Thriller „Der Schacht“ von Galder Gaztelu-Urrutia anschauen, um sich wieder besser zu fühlen. Oder in eine noch tiefere Sinnkrise stürzen, findet Matthäus Leidenfrost.

Eigentlich würde das Essen für alle Gefangenen reichen… Bildmontage/Foto: Netflix, Illustration: Joshua Leibig

Die Idee ist simpel: Hunderte kleine Zellen mit je zwei Gefangenen sind übereinander angeordnet und durch den namensgebenden Schacht miteinander verbunden. Durch diesen schwebt jeden Tag eine Plattform herab, die ganz oben mit den feinsten Speisen beladen wird. Je weiter sie hinabsteigt, desto weniger Nahrung bleibt darauf übrig. Die Gefangenen stürzen sich auf ihre tägliche Essensration und versuchen in zwei Minuten, so viel wie möglich von dem zu verschlingen, was die höher festgesetzten Insassen übrig gelassen haben. Oben lebt es sich fürstlich, unten geht es um Leben und Tod, und in der Mitte freut man sich noch über die Krümel des Kuchens.

Man kann nicht nach oben kacken

Schnell wird klar: Der Film versucht, die Zuschauenden gewaltsam zum Nachdenken über den Zustand unserer Gesellschaft zu zwingen. Dabei wird nicht gerade feinfühlig vorgegangen; auf versteckte Anspielungen oder raffinierte Analogien wird verzichtet. Banalität und Brutalität sind hier Programm – und das funktioniert! Das Wesentliche ist schnell begriffen: Fressen oder gefressen werden. Macht ist von oben nach unten verteilt, weil, wie im Film scharfsinnig bemerkt wird, „man nicht nach oben kacken kann“.

In diesem kafkaesken Schacht ist sich jeder selbst am nächsten. Goreng, der Protagonist, hat sich freiwillig in dieses „vertikale Self-Management-Zentrum“ begeben, um einen „qualifizierten Abschluss“ zu erhalten – ein sinnloses Patent und die Spitze der modernen Selbstoptimierung. Die meisten Gefangenen befinden sich hingegen unfreiwillig dort. Die Ausweg- und Sinnlosigkeit, die in diesem Schacht spürbar werden, der von der unsichtbaren „Verwaltung“ – der Perfektion abstrakter Bürokratie – beherrscht wird, lässt das Allzumenschliche im Menschen hervorbrechen.

Für eine Hand voll Panna Cotta

Mit diesem Leben aus Fressen und Sterben gehen die Insassen höchst unterschiedlich um. Selbsterhaltung, Solidarität und Hoffnung stehen sich gegenüber, mittendrin ist Goreng, der verdammte Idealist, der sich den Schacht wohl mehr wie einen Yoga-Trip nach Bali vorgestellt hatte. Anfangs noch das hehre und naive Ziel verfolgend, endlich Don Quichotte zu lesen, ekelt er sich vor den Essensresten, schlägt wenig später jedoch mit Eisenstangen Schädel ein, um eine einzelne Panna Cotta zu retten. Denn er findet sich nicht einfach mit dem Zustand der Schacht-Welt ab, er will sie verändern, um jeden Preis. Dazu braucht es ein Symbol: die Panna Cotta. Das ist in der Tat absurd, aber einen anderen Ausweg scheint es nicht zu geben. Der Preis für diese einzige Hoffnung ist hoch, denn wer sich aufmacht, um die Welt zu verändern, verliert sich vielleicht selbst. Aber verloren sind an einem solchen Ort ohnehin alle.

Der Film wagt sich durch seine Banalität an einige wichtige Fragen unseres Zusammenlebens heran und stellt große Probleme stark karikiert und verkürzt dar. Aber das ist gar nicht schlecht, denn der Film versucht die Zuschauenden nicht mit schlauen Sprüchen zu belehren. Das, was man sieht, spricht für sich und wenn man seinen Ekel überwindet, macht das auch Spaß. Es geht im Leben nun mal um die Wurst, und gerade in Zeiten wie diesen muss man hoffen, dass der Nächste sich nicht immer selbst der Nächste ist.


Autor*in

Matthaeus Leidenfrost

Jäger des verlorenen Satzes

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