Optimieren was noch übrig ist

„Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren“, sagte Karl Lagerfeld. Annika Grosser sieht das anders: Was Kontrolle im Corona-Alltag bedeutet, entscheidet nicht Karl, denn selbst eine Jogginghose kann Teil der eigenen Bewältigungsstrategie werden.

Selbstoptimierer*innen wollen immer hundert Prozent aus ihrem Leben herausholen. Im Angesicht einer Pandemie gestaltet sich dieser Lebensstil eher schwierig: Wer monatelang hart für etwas gearbeitet hat und nun leer ausgeht, wer sogar mit Existenzängsten kämpft oder einfach nicht gern alleine ist, sucht mehr den je verzweifelt nach einer Konstante. Ihren Strukturverlust projizieren sie so auf die wenigen kontrollierbaren Bereiche des Lebens und verwandeln sich in die oft verhassten „Overachiever“.

„Anderen Menschen geht es viel schlechter!“ ist ein aktuell relevanter und zweifellos zeitloser Satz. In den letzten Wochen habe ich mich oft genug dabei erwischt, dem Virus die Rolle des omnipotenten Zerstörers jeglicher Vorfreude und Motivation zuzuschreiben. Als Folge versank ich gerne mal für ein paar Stunden im Selbstmitleid. Das muss zwar auch mal sein, ist auf Dauer aber keine Lösung.

Durch unseren Langzeitaufenthalt in den eigenen vier Wänden entsteht der Irrglaube, wir hätten mehr Zeit zur Verfügung als zu prae-Corona-Zeiten. Doch der Tag hat weiterhin nur 24 Stunden. Sieben Tage die Woche ziehen sich wie geschmolzener Käse einer alten Takeout-Pizza, die wir – mit Sicherheitsabstand und Mundschutz gewappnet – am Freitag bei der Pizzeria um die Ecke abgeholt haben – oder war es Donnerstag? Trotzdem rasen die Stunden nur so vor unseren Augen vorbei, hell erleuchtet vom Flimmern eines Webex-Meetings, die Kamera abgeschaltet, gefühlt nur halb anwesend.

Eine gesunde Portion Selbstverbesserung

Je weniger wir das Haus verlassen, desto eher entsteht der Drang, auf irgendeine Art produktiv zu sein, irgendetwas zu leisten, irgendetwas zu streichen von der langen Liste mit „Mach-ich-balds” und „Wenn-ich-Zeit-habs”. Das sind die Auswirkungen jahrelang antrainierter Gedankenmuster. Viele von uns haben verlernt, mit den eigenen Gedanken allein zu sein. In einer Ausnahmesituation wie einer Pandemie fallen plötzlich Dinge auf, deren Priorität im Alltag leidet. Das kann auch ein Silberstreif sein: Zum ersten Mal seit langem hat sich mein Schlafrhythmus wieder eingependelt. Ich habe tatsächlich genügend Zeit, den Lesestoff meiner Seminare gründlich zu erledigen und kann zwischendurch etwas essen, dass nicht schon einmal aufgewärmt war, anstatt im akademischen Viertelstündchen von einem Institut zum nächsten zu hetzen, wo mein knurrender Magen die Arbeitsatmosphäre im Hörsaal stört.

Selbstoptimierung wirkt nach außen hin oft wie zwanghafter Verbesserungswahn oder Angeberei, ist jedoch nichts anderes als ein Bewältigungsmechanismus für einen momentan recht nachvollziehbaren Kontrollverlust. Das bedeutet nicht, dass ich vor Sonnenaufgang zehn Kilometer renne, meinen Frust mit einem Grünkohlsmoothie runterspüle und die Wohnung zweimal täglich ausmiste, um mir dann abends beim Duft eines halb verbrannten Bananenbrots einzureden, wie viel Spaß mir das gemeinsame Puzzeln via Videochat macht. Im Gegenteil: Es ist normal, in einer ungewohnten Situation, konfrontiert mit negativen Gefühlen, in ein kleines oder etwas größeres Loch zu fallen. Nur sollte man sich gelegentlich darin üben, aus Löchern wieder rauszuklettern – gerne auch in Jogginghose.

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