Kreuzberger Treibstoff

Mit „Arbeit“ hat Punksänger Thorsten Nagelschmidt den Berliner Nachtarbeiter*innen ein literarisches Denkmal gesetzt. Dabei bleibt die Handlung bei zu viel Kreuzberg-Realismus jedoch oft auf der Strecke, findet Julia Hubernagel.

334 Seiten lang wandern die Leser*innen durch die Kreuzberger Nacht abseits der Bars und Clubs. Foto: Julia Hubernagel, Illustration: Joshua Leibig

Freitagabends, wenn in Berlin die Lichter angehen, strömen die Feierwütigen nach Kreuzberg. Überdrehte Touristen, Soziologie-Studierende im Understatement-Look, Raver und Punks bestimmen das Straßenbild. Was zwischen dem ersten Späti-Bier, dem Pillenkauf auf der Club-Toilette und dem fetttriefenden Kebab um sieben Uhr morgens gerne in Vergessenheit gerät: Irgendwer muss die Sauerei der Nacht auch wieder wegwischen.

All jenen, die die Kreuzberger Infrastruktur am Laufen halten, hat Thorsten Nagelschmidt ein Buch gewidmet. „Arbeit“ erzählt von den Gestalten der Nacht, die wir nur am Rande und lieber nicht bemerken. Der Pfandsammlerin wird großmütig die leere Bierflasche überlassen, der Taxifahrer zugunsten des billigen Uber-Tarifs ignoriert und die Fahrrad-Lieferantin hat wegen der ausgelaufenen Nudelsuppe nun wirklich kein Trinkgeld verdient.

„Die Blauen sind ‘ne sichere Sache, gut zu dosieren. Die Eckigen sind halt Advanced, das ist Südtribüne für ganz besondere Fans.“

Thorsten Nagelschmidt (Arbeit)

Nagelschmidt gibt den Nachtarbeitern und ihren Lebensumständen Raum. Der als Frontmann der Band Muff Potter bekannte Wahlberliner hat für „Arbeit“ intensiv recherchiert, Interviews geführt und undercover in Hostels und an Clubtüren gearbeitet. Seine Detailversessenheit ist in Figuren wie „Blacky“ erkennbar, der von seiner Flucht durch Westafrika und seiner neuen Lebensrealität im Görlitzer Park erzählt. Auch die Rettungssanitäter wirken lebensecht und Gespräche zwischen jugendlichen Taschendieben erfreulich wenig bemüht. Als Romanheldin entpuppt sich hier die Späti-Besitzerin oder die Reinigungskraft. Und das ist neu, das ist gut. Wer sich bislang wenig Gedanken über Alltagsrassismus oder die prekären Verhältnisse im Lieblings-Antiquariat gemacht hat, schlendert nach der Lektüre vielleicht aufmerksamer durch SO 36.

Irreführend ist jedoch der entscheidende Zusatz unter dem Buchtitel: Roman. „Arbeit“, schon als großer Berlin-Roman der heutigen Zeit betitelt, zeichnet sich durch das Fehlen von Literarizität aus. Geschichten gibt es nur rückblickend, Poesie und Spannungsmomente lassen sich nur in der Vergangenheit erahnen. Nagelschmidts Figuren existieren lediglich, manövrieren sich durch die Nachtschichten und versuchen dabei, sich zwischen dem Dreck nicht selbst zu verlieren. Außer reichlich absurder Situationskomik, wie die Krimihandlung um einen abgeschnittenen Zopf eines vermeintlich außerirdischen Hostelgastes, herrscht wenig Stringenz auf 334 Seiten Kreuzberg-Realismus.

„Guck mal, wie tsych das hier alles aussieht“, sagt Osman. „Diese Felsen und die Bäume und die Villen.“ „Das ist GTA, Alter, keine Reisesendung auf RTL“, sagt Pascal.

Thorsten Nagelschmidt („Arbeit“)

Da hilft es auch nicht, dass sich die Wege der Charaktere immer wieder wie zufällig kreuzen. Diese Begegnungen verlaufen schmerzhaft offensichtlich: Hinweise, und noch mehr Hinweise, dass es sich wirklich um die Möbel kaufenden Druffies aus dem zweiten Kapitel handelt, werden derart plump gestreut, dass sich Leser*innen eher in einem Brandenburger Dorf à la „Unter Leuten“ wähnen als an „Berlin Alexanderplatz“ erinnert fühlen.

Für „Arbeit“ hat sich Nagelschmidt bei den Großen der urbanen Verdichtungspoesie bedient: Rainald Goetz findet ebenso Erwähnung wie Reminiszenzen an Abgrundexistenzen aus der Feder William Burroughs’ geweckt werden. Dem Roman kann das nur förderlich sein. Trotz literarischer Mängel webt Nagelschmidt die Fäden so dicht, dass das Netz erkennbar wird, welches das Berliner Nachtleben vor dem Absturz bewahrt. Seine Partygäste entlässt es so am nächsten Morgen sanft in die Freiheit und in ihre stuckbesetzten Altbau-Zimmer, während sich die Helden der Nacht still und heimlich in der Hohenschönhausener Platte ausschlafen.


„Arbeit“, Thorsten Nagelschmidt, S. Fischer Verlag, 22 Euro.

Autor*in

Julia Hubernagel

Lesen tut Julia Hubernagel sehr gern. Manchmal schreibt sie auch, um einfach mal etwas zurückzugeben.

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