Chabos wissen, wie voll das Glas ist!

Haftbefehl meldet sich nach fünfjähriger Abstinenz als Solokünstler mit „Das Weiße Album” zurück. Doch der Mix aus Autotune und Straße füllt das Glas nur zur Hälfte, sagt Elias Fischer.

A-Seite mit den ersten drei Tracks von „Das Weiße Album”. Foto und Montage: Elias Fischer, Illustration: Joshua Liebig

Für einen Augenblick wird alles schwarz-weiß. Zu schwermütigen Akkorden auf dem Klavier dirigiert Haftbefehls erste Hook durch nebulöse Szenarien des schmutzigen Drogenhandels: Kiloweise Kokain, das aus Kolumbien zu Hafti gelangt. Wie? „Mir doch Schwanz, woher es kommt/ Hauptsache, es kommt in Frankfurt an.” Er hält die Hörer*innen in einer Scheinwelt gefangen, bis der Eintritt in seine diabolische Realität erfolgt. „I-blis, Shey-tan,  Daj-jal, Sa-tan – Zu-stän-de, sie sind gott-los”, klatscht Haftbefehl einem zu brachialem Beat von Produzent Bazzazian jede einzelne Silbe wie die Faust eines Schwergewichtsboxer ins Gesicht. Man taumelt. Realitätscheck. Der Track „Bolon” ist die peitschende Hymne, die sich wahrscheinlich jeder Fan als Einstieg in das langersehnte „Das Weiße Album” (D.W.A.) erhofft hat.

Fast fünf Jahre sind vergangen, seit Haftbefehl, bürgerlich Aykut Anhan, sein letztes Soloalbum „Unzensiert” auf den Markt gebracht hat, fast sechs seit „Russisch Roulette”, mit dem er neue Maßstäbe im deutschen Rap setzte. Damals flowte Hafti auf Beats von Bazzazian, deren Bilder und Widersprüchlichkeit neue Sphären im Rap öffneten. Jetzt ist der Offenbacher Rapper gewohnt arrogant und aggressiv zurück: Das zumindest verspricht der ambivalente Albumtitel, der eine Anlehnung an das legendäre Beatles-Album mit der Farbe von Kokain zu vereinen scheint. Es wäre eben jene Ambivalenz, die Haftbefehls Schaffen bisher vom Einheitsbrei des deutschen Raps in den Charts abgegrenzt hat – ein großer Hauch Depression und verletzlicher Jugendhaftigkeit gefangen in Gewalt und Arroganz.

Die besten Geschichten entstehen bei Ali in der Küche

Was Haftbefehl selbst vom Rest der deutschen Rapszene hält, legt er direkt in „Morgenstern” unvermittelt offen: „Zeit für echten Rap, nix mehr mit Autotune-Gesülze/ Welcher Gangster singt wie Britney Spears?/ Was guckt ihr denn für Filme?” Dass seine Stimme auf den kommenden Tracks andauernd unter Autotune-Effekten daher trällern wird, scheint ihm Bazzazian verheimlicht zu haben; aber als Babo ist er trotz etlicher Widersprüche ohnehin unantastbar. Unantastbarkeit vermittelt auch der Track „KMDF”, kurz für „Koka macht dich feucht”, gefeatured von Shindy, der wie kein anderer momentan sein sakrosanktes Image pflegt. Frauen werden mit Koks gefügig gemacht, andere Rapper müssen weichen – es ist die alte Leier, die in ein sirenenhaftes Soundkorsett gepresst aber erstaunlich gut funktioniert.

Haftbefehl verzichtet auch auf D.W.A. nicht auf frauenverachtende Zeilen. Es ist die ewige und notwendige Diskussion, ob die Reduzierung der Frau auf ein devotes Lustobjekt zum HipHop gehört oder nicht. Betrachtet man die Grundgedanken der HipHop-Kultur Vielfalt, Mitbestimmung und Toleranz, die sich mit der Zeit wandeln, dann zeigt Haftbefehl sein eher antikes als zeitgemäßes Verständnis des HipHop. Zumindest verzichtet er auf D.W.A. auf grob antisemitische wie in „069” („Rothschild-Theorie, jetzt wird ermordet”).

Nicht nur die Leier ist alt, mittlerweile ist es Hafti auch. Doch in „RADW” (Rücken an der Wand) lässt er unter einem Bassgewitter ein letztes Mal gewaltsame, überzeichnete Zeilen über die Jugend als Ticker auf seine Fans regnen, in denen er beweist, welches Storytelling-Talent in ihm steckt. „Ich kipp’ literweise Cîroc-Woddi in mich ein/ sitz’ bei Ali in der Küche, Ahornstraße in Griesheim/ Rieseneisen an mein’n Eiern, mies auf Paranoia-Style/ sollt ich etwas hör’n, schieß’ ich gleich, fick die Polizei”. Die Augen weiten sich, die Hände liegen auf den Taschen, jeden Moment zur Flucht bereit – seine Vergangenheit wirkt noch einmal gegenwärtig.

Das unverzeihliche Feature

Dann aber macht ein Feature fluchtunfähig. „Conan x Xenia” ist kein per se schlechter Track, aber er lässt erstmals die Authentizität, die Haftbefehl trotz der Widersprüche kindlicher Naivität und der Straßenattitüde bisher immer ausgezeichnet hat, bröckeln. Während er in „Bolon” rappt, dass „Wir leben, was wir reden, unser Verständnis von Hip-Hop, du Fotze” und in „Morgenstern” sowie in „Für immer reich” Influencer*innen belächelt („Ich riech’ Neid, trotz ihr’m Hype/ Mit Instagram-Likes kriegst du nicht mal ‘n Eis), holt er sich ausgerechnet Shirin David auf die Platte, die eines nicht ist: authentisch. Zwar ist sie in Gesang und Tanz sehr gut ausgebildet, rappt einen sehr soliden Part in „Conan x Xenia”, aber letztlich imitiert die auf Social Media gewachsene Künstlerin nur amerikanische Größen wie Nicki Minaj und Cardi B. Plötzlich plätschert der Rest des Albums nur noch so dahin. Auf „Hotelzimmer“ offenbart Haftbefehl scheinbar Gefallen an wortkargen, autotunegetränkten Dauerschleifen des Cloudrap und wiederholt „Besser, du gehst deinen und ich geh’ mein’n Weg” wie auch „Ich sitz’ im dunklen Hotelzimmer” häufiger als ein Rummelmitarbeiter, der die letzte Runde der Fahrt ankündigt. 

Das unverzeihliche Feature mit Shirin David.

Zum Ende von D.W.A. zeigt sich Haftbefehl zu melancholischen Melodien in „Papa war ein Rolling Stone” noch kurz als reumütiger Familienvater („Die Kripo hat vor unser Tür gewohnt/ Denn Papa war ein Satansbraten, hatt’ die Taschen voller Obst/ Jeder macht Fehler und in jedem steckt Rock ‘n’ Roll/ Doch man soll aus Fehler lernen, Babo Noah, Gott ist groß”) und überlässt seinem Bruder Capo in „Depression & Schmerz” kurz die Audiospur, damit dieser den Autotuneanteil auf der Platte jammernd erhöhen kann. Nicht einmal die „Pt. 5 (Mainpark Baby)” und „Pt. 6 (Gabriel vs Luzifer)” der 1999-Reihe, in der Haftbefehl seit „Russisch Roulette” seine drogenreiche, kriminelle Vergangenheit kritisch und unverblümt aufarbeitet, retten den zweiten Teil des Albums. Heilende Wirkung hätte möglicherweise anderen Features innegewohnt: Hanybal statt Capo, Celo & Abdi statt Ufo361 und SSIO statt Marteria hätten dem Album den gewohnt schmutzig asphaltgrauen, hochnäsigen Anstrich verliehen. D.W.A. ist wie ein halbvolles Glas, weil Bazzazians industriellen Beats auf Teil Eins der Platte aufwiegeln und Haftis unberechenbarer Flow zumindest gelegentlich fasziniert. Genauso ist es ein halbleeres Glas, weil die Haftitypischen Schocker nur auf der halben Platte zu finden sind. Kurz: Den Status des legendären weißen Albums der Beatles wird D.W.A. nicht erreichen. 


„Das weiße Album” ist am 05.06.2020 erschienen. Label: Urban (Universal).

Autor*in

Elias Fischer

Seine Männlichkeit passt nicht ganz in den Bildausschnitt.

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