Deutsche Unis digitalisieren sich zurzeit im Eiltempo. In den USA mischt jetzt auch Google bei der akademischen Ausbildung mit. Fortschritt oder Dystopie? Margo Wieseler und Julian Sadeghi sind geteilter Meinung.
Bett statt Fensterbank im überfüllten Hörsaal, eigener Schreibtisch statt zu kurzem Klapptisch, kurze Wege von Couch zu Kühlschrank statt weitläufigem Campus in Dahlem: Viele Studierende lernen seit neun Monaten alleine vor dem Computer. Die Umstellung kam plötzlich: Vor Covid-19 war die Welt des digitalen Lernens für viele Hochschulen in Deutschland eine Büchse der Pandora, an die sich nur wenige herangetraut haben.
Einer von ihnen war der Technologiekonzern Google. Im Juli vergangenen Jahres kündigte dieser an, seine Career Certificates massiv auszuweiten. Im Rahmen des etwas polemisch betitelten Programms Digital jobs program to help America’s economic recovery werden drei verschiedene Kurz-Ausbildungen im IT-Bereich angeboten. Die auf sechs Monate ausgelegten Programme werden online von Google-Mitarbeiter*innen unterrichtet und sollen mit einem Zertifikat enden. Dieses will das Unternehmen bei der Besetzung von neuen Stellen in den Bereichen Data Analytics, Project Management und User Experience in Zukunft als gleichwertig zu einem Bachelor-Abschluss anerkennen. Kosten: 49 Dollar pro Monat. Die Versprechungen von Google klingen verlockend: Chancen auf einen Job bei einem Weltkonzern, und zwar ohne hohe Kosten, Ortsbindung oder einen großen Zeitaufwand. Im Vergleich dazu wirkt das Konzept der langwierigen und oft theoretischen Hochschulbildung fast schon antiquiert. Könnten solche privaten Bildungsalternativen auch in Deutschland bald die klassische Lehre an den Universitäten verdrängen?
Margo: Universitäten, verschlaft den Trend nicht!
Seit jeher sorgen hohe Studiengebühren in den Vereinigten Staaten dafür, dass viele Familien sich nach Alternativen zu den klassischen Universitäten und Hochschulen sehnen. Im Vergleich zu den mindestens vierstelligen Beträgen pro Jahr an der Uni wirken die 49 Dollar pro Monat bei Google wie Peanuts. Allerdings haben bereits in der jüngeren Vergangenheit viele Familien und Studierende den Hochschulen die Treue gehalten, obwohl die Studiengebühren sich in den letzten Jahrzehnten vervielfacht haben. Zu Teilen liegt das sowohl an der oft starken Identifikation mit Universitäten und deren Sportmannschaften als auch dem noch immer propagierten „American Dream“.
Auch wenn universitäre Sportteams in Deutschland eher eine untergeordnete Rolle spielen, gibt es auch hier gute Gründe, um einen Erfolg der Google Certificates zu Lasten von traditionellen Universitäten anzuzweifeln. Erstens wirkt die Versprechung, eine Berufsausbildung innerhalb von sechs Monaten alleine vor dem heimischen Computer zu absolvieren, nach der Coronakrise für viele Schüler*innen und Studierende eher wie eine Drohung.
Zweitens haben viele Hochschulen durch die Pandemie ohnehin Fortschritte im Bereich der Digitalisierung gemacht. Laut Handelsblatt geben nun immerhin knapp die Hälfte der Dozierenden an deutschen Unis und Fachhochschulen an, über ein digitales Lehrkonzept zu verfügen. Vor der Coronakrise habe dieser Wert bei nur 16 Prozent gelegen. Das eröffnet neue Möglichkeiten, die hoffentlich erhalten bleiben. Die Unis bekommen durch die Pandemie also die einmalige Chance, die Uhr nicht einfach zurück zu drehen, sondern ihren Studierenden endlich ein variables Angebot zu machen.
Die im Zuge der Coronakrise noch einmal angeschobene Digitalisierung bietet für deutsche Unis allerdings eine letzte Chance, überalterte Konzepte zu überdenken und sich ausnahmsweise den Studierenden anzupassen – denn sonst werden diese sich in einer globalisierten Welt aus vielen unkonventionellen Bildungsangeboten die aussuchen, die zu ihnen passen. Die Fortschritte der letzten Monate zeichnen dabei ein Bild, das vorsichtig auf ein Einsehen der Unis hoffen lässt. Darüber hinaus ist kurzfristig ist in jedem Fall davon auszugehen, dass der Wille zum Engagement und zum Lernen in Präsenz ansteigen wird, wenn „My Campus” endlich wieder in Dahlem statt (nur) im Blackboard zu finden ist. Denn die eigene Couch kann noch so gemütlich sein – irgendwann wird sie dann doch ein wenig einsam.
Julian: Bildung darf nicht in die Hände von Internetkonzernen gelangen!
Google ist unbeschreiblich mächtig. Tentakelartig zieht es einstmals analoge Lebensbereiche hinüber in die Sphäre des Digitalen. Das ist oft nützlich. Wer hantiert noch mit Stadtplänen? Wer benutzt einen analogen Kalender? Wer hat auf Reisen noch ein Taschenwörterbuch dabei? Das Problem: Dabei entstehen häufig Monopole – die Suchmaschine mit den bunten Buchstaben ist der beste Beweis.
Die Unternehmen des Plattformkapitalismus verfolgen immer die gleiche Methode, um Macht zu generieren. Sie fügen ihrem Portfolio exklusiv ein reichweitenstarkes Produkt hinzu, das Konsument*innen auf die Plattform lockt. Die damit auf der Plattform generierte Nachfrage lockt dann wiederum neue Anbieter*innen an. Ein Beispiel dafür ist die Audioplattform Spotify, die die deutsche Podcastszene umkrempelte, indem sie 2016 Fest & Flauschig, den damals breitenwirksamsten deutschen Podcast exklusiv unter Vertrag nahm. In der Folge wuchs das Podcastangebot auf Spotify rasant und die Konsument*innen hatten immer weniger Gründe, die Plattform noch zu verlassen. Spotify reüssierte binnen vier Jahren und ist heute aus dem deutschen Podcastmarkt nicht mehr wegzudenken. Besonders problematisch: Die hochwertigen öffentlich-rechtlichen Angebote wie etwa die Podcasts des Deutschlandfunk machen munter mit und liefern sich den Bedingungen eines privaten Softwaregiganten aus.
Die Career Certificates könnten im schlimmsten Fall Vorboten einer ähnlichen Entwicklung auf dem „Markt“ der Bildungsabschlüsse sein. Denn den Bereich Bildung nun in den Kreis der eigenen Geschäftsfelder aufzunehmen, ist aus Sicht von Google ein logischer Schritt. Die Suchmaschinen-Abschlüsse in der IT-Branche wirken auf den ersten Blick wie ein kleines Nischenzusatzangebot, könnten aber – sofern es von den Kund*innen angenommen wird – staatliche Hochschulen irgendwann vermeintlich zwingen, „den Trend nicht zu verschlafen“, eigene Angebote auf Googles Bildungsabschluss-Marktplatz feilzubieten und sich so letztlich selbst das Wasser abzugraben. Dann wären sie die Deutschlandfunk-Podcasts des „Bildungsmarkts“.
Plattformen formen Konformismus
Wie sähe ein Wettbewerb zwischen den Internet-Bildungsanbieter*innen und den traditionellen Hochschulen dann aus? Suchen sich Studieninteressierte in Zukunft ihren Bildungsdienstleister auf einer Google-Plattform aus, hätte das Unternehmen die Möglichkeit, die Angebote zu kuratieren. Dafür haben sich zwei Varianten etabliert: YouTube zeigt die erfolgreichsten, massentauglichsten Kanäle prominent an und perpetuiert damit deren kommerziellen Erfolg. In der Folge werden kleine Nischenanbieter*innen vom Algorithmus kaum noch nach vorn gespült. In einem dystopischen Bildungsszenario platziert Google ausschließlich diejenigen Angebote auf der Startseite der Career Certificates, die stromlinienförmig für die Anforderungen des Arbeitsmarkts des digitalisierten 21. Jahrhunderts ausbilden: IT, BWL, Projektmanagement. Kleine, schlechter verwertbare Angebote, zum Beispiel in den Geisteswissenschaften, verstauben dann in schattigen Ecken der Plattformen, bis sie irgendwann wegen künstlich verknappter Nachfrage ganz eingestellt werden. Kritisches Denken generiert selten Umsatz.
Alternativ: Eine Kuration nach dem Prinzip Spotify; Algorithmen analysieren anhand der vielen Daten, die die Unternehmen des Silicon Valley jetzt schon besitzen, unsere Interessen und schlagen vermeintlich auf das Individuum maßgeschneiderte Studienangebote vor – Entmündigung gibt’s obendrauf. Wie also umgehen mit den Schmalspurabschlüssen aus Kalifornien? Zwar gibt es für übertriebenen Alarmismus wohl noch keinen Anlass, aber wer nicht irgendwann durch eine privatisierte dystopisch-digitale Hochschullandschaft wandern will, sollte sich den Schuh der Google Career Certificates gar nicht erst anziehen.