Cyberpunk 2077: „We have a city to burn“

Existenzielle Fragen stellen sich auch noch in der Zukunft. Lisa Hölzke begibt sich virtuell nach Night City, wo Fortschritt und Zerfall Hand in Hand gehen.

In Cyberpunk 77 sind die USA unwiderruflich gespalten. Bild: CD Projekt RED

Konzerne, die Macht über alles und jeden haben, Klimakatastrophen und eine tief gespaltene USA: Das ist das dystopische Setting, das uns gar nicht mehr so fern erscheint, von Cyberpunk 2077 – dem neuesten Werk des polnischen Videospielentwicklerstudios CD Projekt RED. Aber die Zukunft hat noch mehr zu bieten: Der technologische Fortschritt bestimmt den Alltag im Jahr 2077. Die Grenzen des Menschseins werden durch allerhand Implantate, die in den Körper verbaut werden können, neu verhandelt. In Night City, dem Hauptschauplatz, gibt es nur wenige Körper, die nicht optimiert wurden.

Und damit ist auch das Hauptthema von Cyberpunk 2077 gesetzt. Identitätskrisen plagen die Bewohner*innen der Stadt und so auch den oder die Protagonist*in V . Gleich zu Beginn muss V in Night City ein neues Leben als Söldner*in beginnen. Es gilt, sich einen neuen Platz in der Welt zu erkämpfen. Auf dieser Suche müssen Identitäten immer wieder abgetastet und wortwörtlich in sich selbst hineingeblickt werden. Augmentationen des Körpers, Veränderungen und gar Kopien des Bewusstseins und verschwimmende Grenzen zwischen Realität und Cyberspace begegnen den Spieler*innen auf ihrem Weg. Rockstar Johnny Silverhand, gespielt von Matrix-Star Keanu Reeves, und seine Musik begleiten einen dabei: „But a thing of beauty will never fade away […] We’ll never fade away.“

KI erhält den Literaturnobelpreis

Gerade die Spielwelt, also die Stadt, ihre Bewohner*innen und deren Geschichten, ist die Stärke des Spiels. Dabei sind es oft nicht nur die Hauptcharaktere, die faszinieren, sondern vor allem die Nebenfiguren mit ihren persönlichen Schicksalen, die einen noch lange beschäftigen. So ist jede Mission einzigartig und formt die Spielwelt. Neben dem Identitätskonflikt wird hierbei überwiegend Zwischenmenschliches ergründet:  Missbrauch, Menschenhandel, Verlust, aber auch Liebe, Freundschaft und Familie. Viele schwerwiegende Entscheidungsoptionen stehen einem im Plot nicht zur Verfügung, da die Entwickler*innen zu sehr ihre eigenen Geschichten erzählen wollen. Das stört jedoch nicht, da diese gut erzählt sind und ihre vorgesehenen Wirkungen entfalten.

Die Welt ist bis ins kleinste Detail gestaltet und deshalb hat man wirklich das Gefühl, in eine reale Stadt hineingezogen zu werden. Stunden können damit verbracht werden, News und Late-Night-Shows zu sehen, Radio zu hören, im Internet zu surfen und vor allem die verstreuten Textdateien zu lesen. So erfährt man von einer künstlichen Intelligenz, die den Literaturnobelpreis gewinnt, einer absurd hohen Kriminalitätsrate, Verschwörungstheorien, Implantat-Doping im Sport und den Top-Five-Arbeitgebern, die allesamt als Riesenkonzerne ihre Angestellten versklaven. Vor allem aber lernt man Figuren kennen – Politiker*innen, sogenannte Konzerner, Künstler*innen –, die einem später in den Missionen noch begegnen.

Spielmechaniken als Mittel zum Zweck

Voraussetzung für diese Erfahrung ist, das Spiel zum Laufen zu kriegen. CD Projekt RED muss sich für die teilweise unspielbare Konsolen-Version der letzten Generation verantworten und ebenso für die zahlreichen Bugs, die auch auf optimierten Geräten die Spieler*innen plagen. Erst kürzlich entschuldigte sich Mitgründer Marcin Iwiński für den katastrophalen Release. Abgesehen vom gescheiterten Management, was ein eigenes Thema in der Videospielindustrie ist, wiegen womöglich aus Zeitmangel gestrichene Inhalte schwer. Die Erkundung der Spielwelt ist stark eingeschränkt, wenn man vom Pfad der vorgesehenen Geschichten abweicht. Die meisten Hochhäuser können nicht betreten werden, Interaktionen mit der Welt und den umherlaufenden Bewohner*innen der Stadt sind kaum möglich.

Und auch vorhandene Mechaniken sind unausgereift. Die künstliche Intelligenz der Gegner und Polizei – also ihr Verhalten – wird ihrem Namen nicht gerecht, sodass Kämpfe zu einfach werden. Das Crafting-System braucht es nicht, da man mit Waffen und Kleidung überschwemmt wird. Es gibt kaum Fähigkeiten, die man lernen kann, sodass Kämpfe wenig abwechslungsreich sind. Das Gameplay ist somit eher mittelmäßig. Klingt zunächst vernichtend für ein Videospiel. Es ist aber immer noch gut genug und erfüllt seinen Zweck – das Erleben der Geschichten.

Wenn du lange in einen Abgrund blickst …

Wie so oft hängt der Genuss von der Erwartungshaltung ab. Arrangiert man sich mit den vielen Macken und Lücken, gerät man schnell in einen Sog und identifiziert sich leicht mit V. Die Ankunft in der Stadt ist schwer, die Eingewöhnung braucht Zeit. Alles ist dreckig, kalt und depressiv, obwohl bunt blinkende Reklame und schillernde Implantate die Stadt erhellen. So hangelt man sich von Lichtblick zu Lichtblick, mithilfe der Freund*innen, die man findet. Als Söldner*in wird man zwischendurch immer wieder mit den Abgründen der Stadt konfrontiert. Dabei erschrickt man als Spieler*in nach vielen Spielstunden vor sich selbst, wie befriedigend es sein kann, an der Kriminalität teilzuhaben und auch mal keine Gnade walten zu lassen. Schließlich wird man selbst zum Teil der Stadt und all ihrer Konflikte, sodass Night City einen nicht mehr gehen lässt – auch nicht nach Herunterfahren der Konsole.


Cyberpunk 2077 ist am 10. Dezember 2020 für PlayStation 4, Xbox One, Google Stadia und PC erschienen. In diesem Jahr soll es außerdem für die Playstation 5 und Xbox Series X und S veröffentlicht werden.

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