„Wir verstehen die Welt nicht, wenn wir sie nur aus Berlin betrachten”

Marianne Braig wurde zur neuen Vizepräsidentin für Forschung an der FU gewählt. Mit Caroline Blazy hat sie über ihre Ziele im Amt, ihr Verständnis von guter Forschung, Befristungen in der Wissenschaft und Hochschuldemokratie gesprochen.

Seit 2002 ist Marianne Braig Professorin am Lateinamerikainstitut. Foto: privat

Im Dezember 2020 wählte der Akademische Senat Marianne Braig zur neuen Vizepräsidentin für Forschung. Die Politikwissenschaftlerin und Soziologin studierte in den 70er-Jahren an der FU und lehrt seit 2002 als Professorin am Lateinamerikainstitut (LAI). Zuvor war sie dort bereits Wissenschaftliche Mitarbeiterin.

FURIOS: Frau Braig, Sie haben selbst an der Freien Universität studiert und lehren seit 2002 als Professorin am Lateinamerikainstitut (ZI LAI). Was verbinden Sie persönlich mit der FU?

Marianne Braig: Zunächst verbinde ich mit ihr Internationalität; die Freie Universität ist eine internationale Netzwerkuniversität für alle Gruppen der Universität. Ich weiß, dass man Forschung und Lehre nicht trennen kann von internationalen Interaktionen und Kooperationen. Insofern assoziiere ich genau das mit der Freien Universität, dass es eine weltoffene, global vernetzte Universität ist, die es all ihren Mitgliedern ermöglicht, an anderen Universitäten zu studieren, zu arbeiten und mit diesen zu kooperieren. Ich selbst war als Studentin an verschiedenen Universitäten in Mexiko und habe seither nie anders gearbeitet, als in einem international vernetzten Kontext zu forschen und zu lehren. Kennzeichnend für die Freie Universität ist auch, dass man hier so viele unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Sprachen und kulturellen, disziplinären Hintergründen kennenlernen kann. Ich freue mich immer, wenn ich in der U-Bahn nach Dahlem sitze und diese Diversität sehe und unterschiedliche Sprachen höre. Finde ich super!

Natürlich ist es auch eine Universität, die in der Lage ist, sich immer wieder neu zu erfinden. Wir hatten mehrere Krisen. Schon die Gründung ist ja sozusagen aus einer Krise heraus entstanden. Die Krise ist eine offene Situation und dass die kritische Reflexion, die immer da war und ist, bei solchen Neuerfindungen hilfreich ist, davon bin ich überzeugt und das habe ich auch erlebt.

Welche Zuständigkeiten und Aufgaben ergeben sich aus dem Amt des*der Vizepräsident*in für Forschung an der FU?

Im Präsidium gibt es ja eine Arbeitsteilung in Bereiche wie Forschung, Lehre oder Internationalisierung, und dort bin ich für die Forschung zuständig. Ich habe in den letzten 20 Jahren beobachtet, wie sich die Forschung und die Forschungsförderung an der FU sehr positiv entwickelt und verändert haben, und ich freue mich, dass ich daran mitwirken kann.

Ich bin auch zuständig für den Bereich der Nachwuchsförderung und der Promotionsausbildung; das finde ich einen ganz zentralen Punkt, weil Forschung nicht nur von alten, grauen Männern oder Frauen wie mir gemacht wird, sondern wesentlich in der Konstellation von Teams, in denen ganz unterschiedliche Gruppen zusammenarbeiten, eben Postdoktorand*innen und Doktorand*innen sowie Studierende.

Außerdem bin ich für bestimmte Fachbereiche zuständig. Das ist ein ganz breites Feld, also vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften über die Geowissenschaften bis hin zum Fachbereich Mathematik/Informatik. Einzelne Fachbereiche kenne ich besser als andere. Insofern werde ich viel lernen und hoffentlich unterstützen können. Das sind ja alles forschungsstarke Fachbereiche, insofern glaube ich, passt es ganz gut zu meinen anderen Aufgaben. Was mich sehr freut, ich bin auch für Nachhaltigkeit und für den Botanischen Garten verantwortlich.

Welche Ziele haben Sie für das neue Amt?

Gerade vor dem Hintergrund drängender Zukunftsthemen, für deren Bearbeitung die FU, aufgrund ihre Fächervielfalt und ihrer hervorragenden Forschungserfahrungen gut vorbereitet ist, wäre es ein Ziel, stärker an den disziplinären Grenzen, über die Fächerkulturen hinweg, zwischen Natur-, Sozial- und Kulturwissenschaften zu arbeiten. Vielleicht können wir noch mutiger werden, und verstärkt Themen angehen, für die wir verschiedene Perspektiven aus verschiedenen Fächerkulturen benötigen. Unter dem großen Dach Human-Non-Human Relation können wir Forschungsthemen wie Biodiversität und Nachhaltigkeit in globalen Kontexten oder wie OnHealth, die Verflechtung von Medizin, Gesundheit und Lebensstilen, und die damit verbundenen Herausforderungen für Zusammenleben in vielfältigen Dimensionen fächerübergreifend bearbeiten. Dafür haben wir außerordentliche Expertisen in den Naturwissenschaften und den wissenschaftlichen Bereichen des Botanischen Gartens, in der Veterinärmedizin aber auch in den Sozial- und Kultur- sowie den Geisteswissenschaften und in den Area Studies. Wir sind in den Fachbereichen gut aufgestellt, um diese und viele andere Themen über die verschiedenen Fächerkulturen hinweg angehen zu können.

Neben dem Ziel mehr Fächerkulturen-überschreitender Interdisziplinarität ist mir auch die Überwindung von Blindstellen und Asymmetrien in der Wissenszirkulation im postkolonialen Kontexten wichtig. Forschungskooperationen zwischen unterschiedlichen Akteuren in unterschiedlichen Weltregionen, beispielsweise zwischen Universitäten in den Anden und Exzellenzuniversitäten in Europa, aber auch zwischen universitären und außeruniversitären Einrichtungen, wie Sammlungen, Archive, Museen und Bibliotheken, wie sie beispielsweise in der strategischen Partnerschaft zwischen der Freien Universität und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz möglich wird, sind für die kritische Bearbeitung von Fragen des vielfältigen kulturellen Erbes von zentraler Bedeutung.

Gerade für den Forschungszusammenhang koloniales Erbe und Postkolonialität ist die FU sehr gut aufgestellt. Wir haben in verschiedenen Fachbereichen und Zentralinstituten exzellente Forscher*innen mit unterschiedlichen Forschungserfahrungen mit Fragen, wie Rückgabe von bestimmten Artefakten, Entwicklung neuer Formen kulturellen Erbes, aber auch mit Verdrängen und Vergessen. Ich kenne viele Kolleg*innen, die zu spannenden Fragen in diesem Kontext arbeiten, die uns ganz sicherlich noch lange beschäftigen werden.  

In Ihrer Nominierungsrede im Oktober erklärten Sie „interkulturellen Wissenstransfer“ zu einem Ihrer Schwerpunktthemen. Wie kann Wissensaustausch auf interkultureller Ebene gefördert werden?

Einmal ist es wichtig mit Kolleg*innen aus ganz unterschiedlichen Weltkontexten in Forschung und Lehre zusammenzuarbeiten. Ich persönlich, aber auch die Freie Universität, wir arbeiten mit exzellenten Universitäten in Lateinamerika und weltweit zusammen. Aber das ist nur ein Teil der Geschichte. Es gibt universitäre Kontexte oder Hochschulen, die  äußerst prekär ausgestattet sind, und die grundlegendes Wissen produzieren. Wir können es nur manchmal nicht lesen, weil viele Kolleg*innen eben kein Spanisch, Portugiesisch, Französisch, Chinesisch, Polnisch oder Tschechisch können. Man sollte wahrnehmen, dass wissenschaftliche Produktion in ganz unterschiedlichen Kontexten stattfindet und wenn ich mir die nicht erschließe, fehlt mir ein ganz wichtiges wissenschaftliches Wissensreservoir.

„Ein wichtiger Beitrag zu unserem wissenschaftlichen Wissen liegt im interkulturellen Austausch nicht nur mit wissenschaftlichen Wissensproduzent*innen, sondern auch mit Erfahrungswissensproduzent*innen.”

Das Zweite ist der Austausch über unterschiedliche Arten der Wissensproduktion. Das habe ich in Lateinamerika gelernt, weil ich dort mit anderen Erfahrungs- und Wissensproduktionen konfrontiert wurde, im indigenen Kontext zum Beispiel. Ich glaube, es liegt ein wichtiger Beitrag zu unserem wissenschaftlichen Wissen in diesem interkulturellen Austausch, nicht nur mit anderen wissenschaftlichen Wissensproduzent*innen, sondern auch mit denen, die wir als Erfahrungswissensproduzent*innen wahrnehmen. Dass wir uns anregen lassen, unsere eigenen wissenschaftlichen Voraussetzungen und Kategoriensysteme zu hinterfragen oder zumindest zu reflektieren. Auch zwischen Fächern wie etwa Mathematik und Soziologie ist eine gewisse Interkulturalität notwendig. Wenn Sie von Wissenskulturen oder wissenschaftlichen Disziplinen sprechen, müssen die ja auch in eine Interaktion, eine kulturellen Übersetzung, treten. Und da hilft es manchmal, wenn man das unter dem Blickwinkel: „Was passiert da eigentlich gerade kulturell in der Kommunikation zwischen unterschiedlichen Disziplinen?“ sieht. Umso mehr, wenn die Vertreter*innen dieser Disziplinen, also Wissenschaftler*innen und Studierende, aus unterschiedlichen Erfahrungskontexten kommen.

Ich bin wirklich sehr froh, dass mir 1977 in Mexiko an der UNAM, der größten Universität Lateinamerikas, gesagt wurde: „Du hast keine Ahnung von dem was hier passiert, du musst erst einmal lesen.“ Dann habe ich mich mit der mexikanischen Geschichte beschäftigt und viel Literatur gelesen sowie Museen und Kunstausstellungen besucht, obwohl ich eigentlich Soziologie und Ökonomie studierte. Weil ich verstanden hatte, ich muss die vielschichtigen Zusammenhänge verstehen, in dem dieses Wissen produziert wird. Ich habe gelernt, dass neben Neugierde auch Demut und Respekt vor mir Unbekanntem dazu gehört, und vor allem Zuhören. Das meine ich mit Interkulturalität und die brauchen wir in einem globalen Kontext, wenn wir nicht in diese Polarisierung, die wir ja heute erleben, abdriften wollen. Da haben wir als Universität eine große Verantwortung.

Was macht gute Forschung für Sie aus?

Da gibt es natürlichen den ganzen Bereich der guten wissenschaftlichen Praxis. Dafür gibt es Richtlinien, wie die der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Ich halte hierbei eine frühe Sensibilisierung für sehr wichtig und immer wichtiger, weil wir ja durch die Medien ganz schnell zu Informationen kommen. Wie wir dann diese Informationen in einem wissenschaftlichen Kontext repräsentieren und auch belegen, da müssen wir immer genauer werden. Ich finde es wichtig, dass wir vom ersten Semester an uns immer wieder daran erinnern, dass wir Verantwortung dafür haben, dass wir wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen belegen müssen. Das ist nicht immer ganz einfach, weil wir ja auf einer großen Pyramide von Wissensproduktion stehen, die sich, auch im Disput, weiterentwickelt, aber umso mehr muss man da sehr korrekt sein. Wissenschaftliche Integrität verlangt von uns allen eine ethische Haltung, nicht nur eine juristische.

In meiner eigenen empirischen Forschung führe ich viele Interviews, bei denen die Leute nicht immer genannt werden dürfen und wollen. Man muss dann bestimmte Mechanismen entwickeln, damit die Ergebnisse nachvollziehbar sind. Wenn wir Menschen befragen, müssen wir sie genau aufklären, dass die Daten allein für wissenschaftliche Zwecke verwendet werden und ihr Einverständnis einholen.

Aber die Richtlinien, die gibt es bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft und auf jeder Homepage eines Fachbereichs und die müssen wir uns immer vergegenwärtigen.

Was für Rahmenbedingungen müssen gegeben sein, damit Forschung gelingt?

Die Rahmenbedingungen für gute Forschung sind natürlich, dass es einer wissenschaftlichen Institution wie einer Universität gelingt, kluge und neugierige Menschen zu gewinnen, die  kluge Persönlichkeiten sind, die aber auch die Neugierde haben, mit anderen zusammenzuarbeiten. Perspektivwechsel sind wichtig, gerade auch in Bezug auf unterschiedliche Generationen und kulturelle Kontexte. Eine junge Doktorandin oder eine junge Studierende aus Haiti hat eine andere, vielleicht spannendere Perspektive auf ein Thema als ich.

Und natürlich braucht man dazu auch finanzielle Mittel und Förderinstrumente. Aber wenn ich keine klugen Köpfe und neugierigen Menschen habe, dann nützt das Geld nicht.

Gerade Nachwuchswissenschaftler*innen finden sich besonders häufig in prekären Arbeitsbedingungen wieder und hangeln sich von einer befristeten Stelle zur nächsten. Wie stehen Sie dazu? Wollen Sie etwas dagegen unternehmen?

Lassen Sie mich auf zwei Ebenen antworten. Die erste ist, wie wir überhaupt Nachwuchswissenschaftler*innen und Wissenschaftler*innen unterstützen. Die müssen wir zunächst einmal unterstützen, dass sie in der Zeit, in der sie ihren Vertrag haben, produktiv forschen und gut lehren können. Und da habe ich in den letzten Jahren in meinem eigenen Kontext beobachten müssen, dass wir doch sehr unterschiedliche Situationen haben bei der zeitlichen Befristung von unterschiedlichen Gruppen. Personen, die in einem Promotionsprogramm eine Stelle haben, haben ganz andere Voraussetzungen für Forschung und Profilierung als wissenschaftliche Mitarbeiter*innen, die normal an einem Institut in einem Fachbereich beschäftigt sind. An diesen asymmetrischen Voraussetzungen müssen wir arbeiten.

Und die zweite Ebene ist die der Befristung oder Entfristung. Das ist sicherlich ein ganz zentraler Punkt. Ich kenne dies aus eigener Erfahrung. Meinen ersten richtigen Vertrag ohne Befristung habe ich 2002 unterschrieben. Ich weiß, es ist sehr hart und frustrierend und trotzdem ist ein Wechsel der Universität ganz zentral. Es ist extrem wichtig, dass Wissenschaftler*innen, die eine Professur anstreben, irgendwo hingehen, wo sie nicht ausgebildet wurden. Sie sollten aus den immer noch hierarchischen Netzwerkstrukturen heraus, in welchen sie gefördert wurden. Daran würde ich festhalten, dass für bestimmte Laufbahnen solche Perspektiv- und auch Institutionenwechsel ganz zentral sind.

Aber keine Institution, auch nicht die Freie Universität, kann es sich leisten, ein Durchlauferhitzer zu sein. Das heißt, wir können nicht nur Leute einstellen und dann gehen sie wieder. Wir müssen schon auch überlegen, welche Art von wissenschaftlichen Aktivitäten brauchen wir eigentlich in unserer Institution langfristig. Und dann sollten wir diesen Personen lieber eine Perspektive ermöglichen und sie nicht verlieren.

Was ist Ihr Verständnis von guter Hochschuldemokratie?

Hochschule ist natürlich ein spezifischer Ort von Demokratie und der unterschiedlichen Repräsentation der Gruppen. Es gibt Argumente für das bestehende System, in dem diejenigen eine stärkere Stimme haben, die hier längerfristig für Forschung und Lehre verantwortlich sind, nämlich die Hochschullehrer*innen. Ich habe ja auch schon bei meiner Nominierung gesagt, dass ich da wenig Änderungsbedarf sehe. Allerdings weiß ich auch aus vielen Kommissionen, dass die Perspektiven von unterschiedlichen Statusgruppen sehr wichtig sind für eine Entscheidungsfindung.

„Ich würde mir wünschen, dass sich mehr Studierende einbringen. Es gibt viele Möglichkeiten das zu tun, ohne eine Viertelparität einführen zu müssen.”

Das Wichtigste ist, dass es eine lebendige Hochschuldemokratie ist. Ich würde mir wirklich wünschen, dass sich mehr Studierende einbringen und es gibt viele Möglichkeiten das zu tun, ohne dass ich eine Viertelparität einführen muss.

Wir haben jetzt über einige Themen gesprochen. Haben wir etwas vergessen, was Ihnen noch wichtig erscheint?

Was ich gerne noch sagen würde: Eine große Stärke der Freien Universität sind ihre verschiedenen Regionalexpertisen und die Fähigkeit der Wissenschaftler*innen in der Regionalforschung mit den Mainstreamdisziplinen zusammenzuarbeiten. Wir verstehen die Welt nicht, wenn wir sie nur aus Berlin und Umgebung oder aus dem „Westen“ betrachten. Genauso ist es mit Fächern wie etwa Archäologie und Altertumswissenschaften oder die vielen Sprachen und kulturellen Artikulationen. Sie sind ganz, ganz wichtig. Das ist sozusagen das Salz der Freien Universität. Das sind keine Orchideen, das ist das was uns ausmacht. Wenn ein Mathematiker und eine Arabistin zusammen einen Artikel schreiben, das finde ich faszinierend. Und ich würde mir wünschen, dass wir da noch stärker werden.

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