„Sowas wie Individualität gibt es nicht”

Wer sich in einem Meer aus Menschen bewegt, spürt ihn, und Julia Hubernagel hat mit Philosoph und FU-Professor Sven Rücker über ihn gesprochen: den Sog der Masse.

Sven Rücker hat über Massen im Zeitalter der Individualität ein Buch geschrieben. Foto: Tim Gassauer.

FURIOS: Wir stellen in diesem Heft Masse und Individuum gegenüber. Sind die beiden Begriffe für Sie überhaupt gegensätzlich?

Sven Rücker: Laut traditioneller Massentheorie vom Ende des 19. Jahrhunderts wird Individualität zerstört, sobald sich eine Masse bildet. Gustave Le Bon sagt gar, ich bin dann nur noch durch Rückenmark gesteuert, also ich bin wie ein Zombie nicht mehr zu höheren kognitiven Funktionen fähig. Insofern würde nach der traditionellen Massentheorie eine Masse die Individualität auslöschen. Individuum und Masse wären somit Gegensätze. Wir haben unser Buch jedoch hauptsächlich geschrieben, um der These mal was entgegenzusetzen. Nämlich, dass sich Individuum und Masse gegenseitig stärken.

Laut Gustave Le Bon braucht die Masse eine*n Anführer*in, um eine wirksame Akteurin in der Geschichte zu sein. Freud geht noch weiter und sieht den Zusammenhalt einer Masse gar in der quasi libidinösen Beziehung der Individuen zur*m Führenden begründet. Sind wir heute für einen richtigen Führer*innenkult eigentlich noch anfällig?

Ich glaube nicht. Jedenfalls nicht, wenn Führende so sind, wie sie immer waren: also Feldherr*innen, die nur auf dem Hügel stehen und Soldat*innen mit dem Fernrohr angucken. Das wird nicht mehr funktionieren. Natürlich gibt es trotzdem noch Leute, die Massen gut manipulieren können: Volkstribun*innen. Trump ist ein aktuelles Beispiel für jemanden, der relativ virtuos in der Kommunikation mit Massen agieren kann. Der Witz ist, dass das eben kein hierarchisches Verhältnis, sondern ein wechselseitiges ist. Wenn Volkstribun*innen heute nicht zeigen, dass sie Teil der Masse sind, verlieren sie Einfluss. Zeitgleich müssen sie aber permanent die Meinungen der Masse abhorchen, um diese dann anzunehmen.

Elias Canetti verwendete den Begriff der Gegenmasse, das heißt, eine Masse braucht eine zweite Masse, um sich zu erhalten. Medial präsent waren zuletzt die „Querdenken”-Demonstrationen, die sich gegen alles und jede*n zu richten schienen. Brauchen Massenbewegungen zwingend Feindbilder?

Es ist auf keinen Fall so, dass jede Massenbildung eine zweite Masse braucht, um zu funktionieren: Klassische Festmassen, bei Musikfestivals etwa, genügen sich selber. Für politische Massen ist es jedoch sehr wichtig, Feind zu definieren, weil nichts so sehr mobilisiert wie ein gemeinsamer Feind. So werden alle, die das gleiche Anliegen mit mir teilen, auch ex negativo definiert. Das lässt sich an diesen Querdenken-Demos ganz gut sehen. Der Feind, gegen den man gemeinsam antritt, ist das Establishment, das im Besitz der (medialen) Produktionsmittel ist, die die Öffentlichkeit beherrschen – unabhängig davon, ob dieses „Establishment” existiert, und ob es überhaupt eine Gegenmacht bildet. Entscheidend für die Mobilisierung ist nur, dass sie das glauben.

Massen bilden sich heute schneller als je zuvor – zumindest virtuell. Inwiefern können wir von einer Masse reden, wenn die Teilnehmer*innen räumlich voneinander getrennt sind?

Das kann man meines Erachtens nicht. Massenerfahrung ist immer auch eine körperliche Erfahrung. Die Funktion virtueller Zusammenkünfte ist es, die realen vorzubereiten und zu organisieren. Der Soziologe Gabriel Tarde hat sich Ende des 19. Jahrhunderts in Masse und Meinung auf damals neue Medien wie Zeitungen und Zeitschriften bezogen. Wenn ich weiß, ich lese eine Zeitung und andere lesen die auch, haben wir schon etwas gemeinsam. Und wenn in der Zeitung steht: „Versammelt euch!” – können und werden wir das auch tun. Dann kann es sogar sein, dass sich an verschiedenen Orten zeitgleich Massen bilden, wenn die gleichen Medien benutzt werden. Das war vorher undenkbar und durch die sozialen Medien geht dasselbe eben noch schneller.

Kann es große, vor allem politische Veränderungen ohne Massen geben?

Das glaube ich nicht. Um politisch wirklich was zu verändern, muss man immer die Massen überzeugen, auf sie einwirken oder sie irgendwie formen oder verändern können. Ansonsten ist es eben keine politische Wendung, sondern nur eine strukturelle Reform. Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie das anders funktionieren soll. Andernfalls müsste man dieses Verschwörungsparadigma benutzen. Demnach verändert sich permanent etwas, wir kriegen es nur nicht mit. Und daran glaube ich nicht. Heutzutage würde alles sofort publik werden.

Masse beschreibt ja nicht nur Bewegungen, sondern auch Gesellschaften. Heute wollen alle aus der Masse herausstechen. Leben wir in einer Massengesellschaft, in der alle dasselbe wollen: Individualität?

Ja, ganz genau. Individualität als Massenphänomen. Heute wollen alle einzigartig sein und das auch herausstellen. Dafür braucht jede*r ein einzelnes Publikum. Da aber das Publikum meine Einzigartigkeit bekunden soll und gleichzeitig die eigene bekundet haben will, ist das immer reziprok. Insofern bildet sich eine Masse von Individuen. Diese Individualität ist keine in dem Sinne, wie sich das der Existenzialismus früher vorgestellt hat; ein Subjekt, das sich selber entwirft. Sowas gibt‘s nicht. Alle meine individuellen Entscheidungen sind letztlich auch versteckte kollektive Entscheidungen, die ich nur nicht als solche, sondern als individuelle wahrnehme.

Im Buch zitieren Sie eingangs Elias Canetti: „Der Drang zu wachsen ist die erste und oberste Eigenschaft der Masse.” Wachstumsdrang, das klingt doch nach Kapitalismus. Ist der Kapitalismus selbst vielleicht eine Massenbewegung, die längst keine richtige Opposition mehr hat?

Ja, das kann man so sagen. Es ist jedenfalls interessant, dass die Entwicklung des Kapitalismus mit der Entwicklung neuzeitlicher Massen zusammenhängt. Die gibt es tatsächlich erst, seitdem es den Kapitalismus gibt. Und der Kapitalismus ist ein System, das spezifische Massen generiert, die es für seinen Produktionsprozess braucht, wie Marx im Kapital wunderbar beschreibt. Der Kapitalismus selber ist ja auch gekennzeichnet durch Akkumulation, also durch Massenbildung, und auch das Kapital ist nichts anderes als eine Massenbildung von investierbarem Geld. Möglicherweise ist das ein metaphorischer Begriff von Masse, weil es sich hier nicht um Menschenmassen handelt. Es geht aber nicht nur um symbolische, sondern auch um konkrete Massenbildung, weil die Arbeitskraft an bestimmten Punkten konzentriert werden muss.

Autor*in

Julia Hubernagel

Lesen tut Julia Hubernagel sehr gern. Manchmal schreibt sie auch, um einfach mal etwas zurückzugeben.

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