„Man versucht, sich selbst zu heilen, obwohl man gar nicht krank ist“

Der Film Ace up my sleeve soll vorausichtlich im Sommer 2021 Permiere haben. Foto: Miguel Martin Betancor

Kein Sex ist auch kein Problem – könnte man meinen. Doch asexuelle Menschen leiden oft unter Stigmatisierung. Zwei Studentinnen der FU haben einen der ersten Filme über das Thema gedreht. 

Sex ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Er wird zugleich glorifiziert und mystifiziert,  er ist überall und doch unsichtbar. Jede Hollywood-Romanze ist voller neurotischer, sexueller Anspielungen und gleichzeitig merkwürdig prüde, da es nie wirklich zur Sache geht. Von der Badezimmerfliese bis zum Schokoriegel werden in der Werbung sexualisierte Körper eingesetzt, um Produkte zu verkaufen. Diese Allgegenwärtigkeit von Sexualität und das gleichzeitige Schweigen darüber festigt bestimmte Vorstellungen und Erwartungen in unseren Köpfen.

Aber was, wenn man mit Sex grundsätzlich nichts anfangen kann? Zwischen einem bis drei Prozent der Bevölkerung geht es so: Sie identifizieren sich als asexuell. Zu Asexualität gehört ein weites Spektrum an Lust- und Romantikempfinden. So geht diese nicht automatisch mit Verzicht einher: Einige Betroffene haben Sex, beispielsweise um Kinder zu bekommen oder ihre*n nicht-asexuelle*n Partner*in zu befriedigen. Ebenso sind viele Asexuelle durchaus in der Lage, romantisches Interesse zu empfinden oder eine Beziehung zu führen. Asexualität ist keine Krankheit, sondern eine sexuelle Orientierung. Daher ist diese auch nicht automatisch auf eine fehlende Libido oder andere biologische Ursachen zurückzuführen, sondern beschreibt ein allgemeines Empfinden. 

Als Sophie sich zum ersten Mal bewusst mit Asexualität auseinandersetzt, studiert sie bereits. Seit einigen Wochen ist sie an der Freien Universität für Publizistik und Filmwissenschaft eingeschrieben, nach einem Seminar im November 2018 geht sie mit Kommiliton*innen essen. Sie reden über Gott und die Welt und kommen schließlich auch auf Sex zu sprechen: „Wir haben festgestellt, dass man früh den Druck verspürt, Sex haben zu müssen, weil das ein Statussymbol ist. Single zu sein ist eher negativ konnotiert“, erzählt Sophie. 

25 Prozent aller Suchanfragen im Internet beziehen sich laut einer Studie des Vergleichsportals Netzsieger auf Pornographie. Der Großteil der Jugendlichen macht auf diese Weise die ersten explizit sexuellen Erfahrungen. Kein Wunder also, dass Sex nie bloß Sex ist, sondern aufgeladen mit kulturellen Vorgaben und unrealistischen Erwartungen. Obwohl Jugendliche heute immer später ihr erstes Mal erleben, wie kürzlich eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung belegte, verspüren viele den Druck, früh sexuell aktiv werden zu müssen.

Das Team bei den Dreharbeiten. Foto: Elisa Daniel

„So sind wir dann auf Asexualität zu sprechen gekommen“, erinnert sich Sophie. Ihre Kommilitonin Maria weiß schon seit dem Biologieunterricht in der Schule über das Thema Bescheid und kann erst kaum glauben, dass sie damit in der Minderheit ist. Fasziniert von dem Thema, den vielen Vorurteilen und Wissenslücken, beschließen die beiden spontan, einen Film über Asexualität zu drehen. „Maria hatte Filmequipment zu Hause und so kam es zu dieser ungewöhnlichen Idee“, schildert Sophie. Doch bis sie mit den Dreharbeiten beginnen werden, dauert es noch fast zwei Jahre.

Im Wintersemester 2019/20 besuchen Sophie und Maria schließlich ein offenes Treffen der Freien Filmwerkstatt der FU. Das Institut für Theaterwissenschaft will Interessierten so die Möglichkeit geben, sich zu vernetzen. Ohne fertiges Drehbuch, nur mit der Idee im Kopf, schlagen sie ihr Thema vor und stoßen auf offene Ohren. In Eigenregie stellen sie schließlich ein Team zusammen, starten Castingaufrufe über Social Media, teilen sich in Arbeitsgruppen ein, schreiben ein Drehbuch und haben im Januar 2020 einen Cast von 13 Leuten beisammen.

Der Kurzfilm begleitet schließlich die junge Protagonistin Grace, die sich im Alltag von der sexorientierten Gesellschaft unter Druck gesetzt fühlt. Sie ist asexuell, weiß das allerdings noch nicht und versucht so, ihren eigenen Weg zu finden: „Wenn man nicht weiß, dass es okay ist, zu sein, wie man ist, dann versucht man, sich selbst zu ‘heilen’, obwohl man ja gar nicht krank ist.“ Der Begriff Asexualität fällt im Film jedoch nicht explizit, vielmehr gehe es darum, sich nicht durch Sex definieren zu müssen: „Es ist zwar klar, dass es um Asexualität geht, aber wir nennen den Begriff nicht direkt, weil wir nicht wollten, dass der Film mit einem weiteren Label endet. Dementsprechend ist er auf verschiedene Lebensbereiche übertragbar“, erklärt Sophie.

Ihr Ziel sei es, zu zeigen, dass ein vorurteilsfreier Umgang mit Sex uns alle etwas angehe: „Hat man viel Sex, wird man beurteilt, hat man wenig Sex, wird man auch beurteilt“, sagt Maria. Wichtig sei ihnen einfach, zu zeigen, dass es sowohl okay ist, (einvernehmlichen!) Sex mit jeder*m zu haben, als auch gar keinen Sex zu haben.

Eigentlich sollen die Dreharbeiten im März 2020 starten, doch dann macht die Coronapandemie ihnen einen Strich durch die Rechnung. Sie nutzen die Zeit und verbessern das Drehbuch, teilen sich Aufgaben genauer auf, besetzen Positionen von Teammitgliedern neu, die zwischenzeitlich abgesprungen sind, und suchen im Spätsommer schließlich nach neuen Drehorten – in der FU dürfen sie wegen des Virus nämlich nicht mehr filmen. Mit strengem Hygienekonzept gehen Mitte Oktober, kurz vor dem Lockdown Light, schließlich die Dreharbeiten los. 

Der Dreh, so erzählen sie, ist für sie sowohl fachlich als auch persönlich eine unheimliche Bereicherung: „Immer wieder haben sich Personen bei uns gemeldet, die sich selbst auf dem asexuellen Spektrum einordnen. Wir haben natürlich eine Zielgruppe angesprochen, aber trotzdem war es krass zu sehen, wie viele Leute wir tatsächlich mit dem Thema erreichen können“, berichtet Maria. Sophie bestätigt das: „Viele aus der Crew haben sich erst wegen des Films mit Asexualität auseinandergesetzt und konnten am Set im Gespräch und Kontakt mit den Leuten viele Vorurteile abbauen.“

Nach den Dreharbeiten bewerben die beiden sich noch bei einem Filmförderprogramm für junge Leute – mit Erfolg. Rückwirkend bekommen sie 2.000 Euro Förderung. Das reicht zwar nicht, um alle Kosten, die die Studentinnen aus eigener Tasche bezahlt haben, zu begleichen, aber es sei besser als nichts. Aktuell ist der Film in der Postproduktion, die Premiere ist für Frühling oder Sommer 2021 geplant, je nach Verlauf der Pandemie. Auch bei Festivals wollen Sophie und Maria ihr Werk einreichen: „Wir haben schließlich einen der ersten deutschsprachigen Kurzfilme über Asexualität gedreht.“

Autor*innen

Matthaeus Leidenfrost

Jäger des verlorenen Satzes

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