Deutsche Millennials, südkoreanische Frauenfeindlichkeit und eine Jugend als Exiliraner*in: Diese drei Bücher sind die perfekte Lektüre für Lockdown und Ferien. Von Greta Linde, Lisa Hölzke und Laura Kübler.
Sophie Passmann: Komplett Gänsehaut
Wer eine Geschichte mit Handlungsstrang sucht, wird bei Komplett Gänsehaut nicht fündig – und trotzdem nicht enttäuscht. Vielmehr hat Sophie Passmann auf knapp 200 Seiten scharfsinnige Alltags- und Milieubeobachtungen humorvoll zusammengeschrieben und daraus eine Art klugen Essay gebastelt. Ihre Protagonistin – man ist nie ganz sicher, ob Passmann hier selbst spricht oder einfach viel von sich in die Erzählerin einfließen lassen hat – erzählt von ihrer Wohnung, ihrem Freundeskreis, Nachbarn und Eltern. So banal das auch klingen mag, es ist genial.
Millennials löffeln Avocado auf dem Balkon
Die Genialität liegt in all dem, was die Erzählerin aus diesen Banalitäten ableitet und auf das Leben bezieht: „Erwachsene Menschen reden über ihre Jugend, als sei es dieses schillernde Ding gewesen, als wäre danach nichts Tolleres gekommen. Dir steht die ganze Welt offen, sagen sie, und das stimmt natürlich, aber es ist eben auch wahr, dass kein Mensch, der einigermaßen alle Gefühle beieinander hat, ernsthaft möchte, dass ihm die ganze Welt offensteht.“
Natürlich möchte das niemand, denn Passmann schreibt über all die Menschen, die nicht damit zu kämpfen hatten, sich die Welt ein Stück zu öffnen und sich Chancen hart zu erkämpfen, sondern über all jene, denen es sowieso gut geht. Die mit den sogenannten Luxusproblemen: Akademiker*innenkinder, Bildungsbürgertum und Millennials mit beeindruckendem Bücherregal (hier hat Passmann garantiert sich selbst einfließen lassen), die Avocado auf dem Balkon essen und Kunst an den Wänden hängen haben.
Passmanns Erzählerin ist ebenso kritisch wie ironisch
Die Erzählerin skizziert ihr soziales Umfeld jedoch so treffend, dass nicht etwa der Eindruck entsteht, sie sei stolz, Teil dieses Milieus zu sein, sondern viel mehr etwas peinlich berührt davon. Sie und erst recht Sophie Passmann distanzieren sich, von dem, was sie schreiben, weil sie mit kritischem Blick darauf gucken – ganz anders als bei literarischen Missgeschicken wie Allegro Pastell. Diese kritische Distanz entsteht durch Ironie und die Fähigkeit, lediglich zu schreiben, was ist. Mehr braucht es nicht, um unfassbar treffend und lustig zu sein: „Haltung kann man im Internet nachlesen, meine ja auch, die der Frauen in der Vogue und die der Männer auf reddit, wir sind alle ein und dieselbe Person, und zwar völlig absichtlich, wir haben keine lustigen Hobbys und haben 2013 keine Kleidung ohne postironisches Moment getragen, wir interessieren uns nicht für Pferde oder Filme ohne künstlerischen Mehrwert, wir tanzen nur, wenn Leute zuschauen, wir lachen nur, wenn uns irgendjemand dabei hört, meine Freunde und ich konsumieren mit ein paar Nuancen Unterschied die gleiche Musik und haben die gleiche Haltung, wir mögen dieses eine Album von diesem einen Rapper, haben einen Sommer lang mal RUN DMC gehört, damit wir ohne Gesichtsverlust das T-Shirt dazu tragen konnten.“
Mehr hätte ich nicht hinzuzufügen, wenn jemand mich darum bitten würde, die FURIOS-Redaktion, meine Kommiliton*innen oder meinen Bekanntenkreis zu beschreiben. Komplett Gänsehaut ist absolut verdient von Null auf Eins auf der Spiegel-Bestsellerliste eingestiegen. Es bleibt nur zu hoffen, dass es lange dort oben bleibt.
Cho Nam-Joo: Kim Jiyoung, geboren 1982
Als die Koreanerin Jiyoung Grundschülerin ist, kann sie noch nicht benennen, was sie an der Behandlung seitens der Lehrer und männlichen Mitschüler stört. Nur eins ist sicher: „Sie fühlte sich niedergeschlagen und ungerecht behandelt.“ Sie nimmt es als Normalität hin, dass Jungen zuerst an die Reihe kommen. Egal, ob bei der Essensausgabe oder beim Kontrollieren der Hausaufgaben. Dass immer ein männlicher Klassensprecher gewählt wird, ist ebenso selbstverständlich.
In der Oberstufe erfährt sie am eigenen Leibe, dass sexuelle Belästigung zur Realität einer Frau gehört – und dass es in ihrer Verantwortung liegt, solche Situationen nicht zu provozieren. Warum trägt sie denn auch so einen kurzen Rock, mahnt der Vater sie, nachdem sie abends von einem Mitschüler verfolgt wurde. Als Hochschulabsolventin muss sie bei der Jobsuche feststellen, dass ihren männlichen Kommilitonen trotz mangelnder Qualifikation Vorrang gewährt wird. Doch erst als sie heiratet und Mutter wird, ihren Beruf und ihr altes soziales Umfeld aufgeben muss, ist ihre Belastungsgrenze endgültig erreicht.
Sachlich und klar wie die Realität
In Kim Jiyoung, geboren 1982 wird der Lebensweg einer Frau aufgezeigt, die alles erträgt, bis es nicht mehr zu ertragen ist. Ihre Geschichte wird erzählt in „nüchterner, unaufgeregter Weise“ – so wird es im Text selbst von Jiyoungs Therapeuten kommentiert. Einige Abschnitte lesen sich daher wie Fallberichte. Oft erzählt Jiyoung von „der Schwiegermutter“ und „dem Ehemann“, statt Namen zu nennen. Fußnoten untermauern immer wieder mit Fakten die Lebensrealität koreanischer Frauen: Statistiken zu Gender-Pay-Gaps, Frauenquoten, fehlender Elternzeit und Karriereabbrüchen von Müttern.
In Südkorea hat Cho Nam-Joos Roman einen Nerv getroffen und wurde 2016 zum Bestseller. Zwei Jahre später erreicht die #MeToo-Bewegung auch dieses Land, das eins der höchsten Pay-Gaps der industrialisierten Welt aufweist. Auch im Roman wird deutlich, dass die Stellung der Frau in Korea prekär ist. Es gibt Szenen, die auf europäische Leser*innen befremdlich wirken. Dass Frauen ob des gesellschaftlichen Drucks bei Erwartung einer Tochter ihre Schwangerschaft abbrechen und Söhne im Gegensatz zu Töchtern die gehaltvolleren Mahlzeiten bekommen, ist hierzulande nicht greifbar.
Literarische Solidarität
Doch mindestens eine der vielen Facetten des systematischen Sexismus’ wird wohl jede Frau schon einmal erlebt haben: so zum Beispiel das Messen mit zweierlei Maß zwischen Mann und Frau, die Reduzierung auf das Äußere oder Mansplaining. Nam-Joo erschafft somit eine Protagonistin, die als Projektionsfläche für jede Leserin weltweit dient. Jiyoung solidarisiert sich mit ihren Leidensgenossinnen und vereint sie in sich – sowohl im Text selbst als auch darüber hinaus. Wer Teil dieser Solidarität sein und über den eigenen kulturellen Tellerrand hinausblicken möchte, um sich den universellen Sexismus klar und deutlich vor Augen führen zu lassen – egal ob Leser oder Leserin –, sollte dieses Buch zur Hand nehmen und Jiyoung auf ihrem Weg nicht alleinlassen.
Hengameh Yaghoobifarah: Ministerium der Träume
Hengameh Yaghoobifarahs Debütroman Ministerium der Träume macht seinem Titel alle Ehre, indem es mit einer orientierungslosen Traumsequenz beginnt. Yaghoobifarah, der*die auf Instagram als Habibitus bekannt ist, erzählt mit einer unverblümten, schroffen und teils umgangssprachlichen Wortwahl sowie eingängigen Bildern die Geschichte von Nas, einer Lesbe iranischer Herkunft, die als Türsteherin in Berlin lebt. Zusammen mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester Nushin ist sie als kleines Mädchen aus dem Iran nach Lübeck geflohen. Mittlerweile ist Nas bereits in ihren Vierzigern – was beim Lesen aufgrund der junggebliebenen Charakterzüge Nas‘ stellenweise irritieren kann.
Ausgangspunkt des Romans ist der Tod der Schwester Nushin – wegen eines Autounfalls, so heißt es. Mit diesem Verlust bricht die größte Liebe aus Nas‘ Leben, doch sie muss der Realität standhalten und übernimmt Verantwortung für Nushins Tochter Parvin. Die rebellierende Parvin macht es ihrer Tante nicht gerade einfach, auf sie aufzupassen. Yaghoobifarah zeigt detailgetreu, wie leicht die Verbindung zu einem Teenager reißen kann und auf was für einem schmalen Grad sich Nas‘ Annäherungsversuche zu Parvin bewegen. Ihre größte Gemeinsamkeit: Die Trauer und das unergründliche Gefühl, dass es sich bei dem Tod von Nushin nicht um einen einfachen Autounfall handelt. Zufall, Suizid, Mord? Die Liste der Vermutungen ist lang und obwohl Parvin und Nas spüren, dass etwas nicht stimmt, verharren sie die Hälfte des Romans in unbeholfener Tatenlosigkeit.
Im Rückwärtsgang geradeaus
Yaghoobifarah lässt immer wieder Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend der Ich-Erzählerin miteinfließen. Zu Beginn noch in Teheran, befinden sich die beiden jungen Mädchen mit ihrer Mutter schon bald in ihrer tristen Wohnung im Lübecker Stadtteil Hudekamp. Sehr früh müssen die Schwestern lernen, mit Verlust umzugehen, wenn der Tod einer geliebten Person jahrelang unausgesprochen im Raum steht. Der Mutter rutscht häufig die Hand aus, wobei sie auch in späteren Jahren stets von ihren Erziehungsmethoden überzeugt bleibt. Nas und Nushin entwickeln sich in unterschiedliche Richtungen, weichen jedoch nie von der Seite der jeweils anderen. Prägend für Nas sind die Entdeckung ihrer Sexualität, aber auch die Politisierung ihrer Freundesgruppe, die mit den rassistischen Attentaten der 90er Jahre, wie beispielsweise den Ausschreitungen in Hoyerswerda 1991, einhergehen. Der Rassismus in Deutschland und die Neonaziszene werden mit fortlaufender Handlung immer gegenwärtiger.
Musikalisch untermalt
Die Stärke des*der Autor*in liegt eindeutig mehr in den einzelnen, stimmungsvollen Szenenbeschreibungen, als in dem Zusammenspinnen einer Gesamterzählung. Das Lesen gleicht dem Auf und Ab einer Achterbahn, mit nervensträubenden Höhepunkten und schwachen, teilweise albernen Handlungssträngen. Unentwegt wird die Geschichte Nas‘ von Songzeilen begleitet. Eine abgrundtiefe, traumatische Erinnerung, aber auch die schönsten Momente werden musikalisch begleitet. Yaghoobifarah vereint politischen Aufdeckungskrimi, Familiendrama und Liebesstory in einem und erschafft so eine Wirklichkeit, die witzig und traurig, leicht und bedrückend zugleich ist.
Komplett Gänsehaut ist im März bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet 19 Euro.
Kim Jiyoung, geboren 1982 ist im Februar bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet 18 Euro.
Ministerium der Träume ist im Februar im Aufbau Verlag erschienen und kostet 22 Euro.