Gefangen in der Alternativlosigkeit

Am Horizont zeichnet sich ab, dass wir zumindest die schlimmsten Auswirkungen der Pandemie bald hinter uns lassen können. Endlich kann alles so weitergehen wie bisher. Was für ein entmutigender Gedanke! Von Matthäus Leidenfrost.

Scheinbare Alternativlosigkeit angesichts der Zukunft – für viele Studierende eine bekannte Situation. Illustration: Lara Rau

Freund*innen in Bars treffen, ins Kino gehen und ohne Sorge die Oma besuchen – darauf haben wir alle lange gewartet und wir haben jedes Recht, uns darauf zu freuen. Aber dürfen wir uns nach der Pandemie, die eine Zerreißprobe für uns und die Gesellschaft ist, einfach zurücklehnen, unsere Drinks schlürfen, unsere Abschlüsse machen und uns wieder in ein System einfügen, das eigentlich kaum noch funktioniert?

Tatsächlich können wir uns eine echte Alternative zum Kapitalismus gar nicht ausmalen. Das ist ein Problem, auf das der britische Kulturkritiker Mark Fisher schon vor der Pandemie hinwies: Es sei einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Unzählige Filme und Bücher beschäftigen sich mit Ersterem, aber wirklich grundlegende Veränderungen, die uns eine gerechtere, nachhaltigere und bessere Zukunft ermöglichen könnten, sind heute nicht einmal mehr Diskussionsgegenstand. Vielleicht wurden wir zu oft enttäuscht, um uns wirkliche Alternativen auszumalen.

Auch inmitten einer Pandemie, die Menschen buchstäblich nach Atem ringen lässt, und während alles zugesperrt wird, was Spaß macht – die Büros und Fabriken bleiben offen. Unfreiwillig hat sich gezeigt, was von unserer Gesellschaft übrig bleibt, wenn man alle Ablenkung entfernt: Vereinsamung und Selbstausbeutung. Statt grundsätzlich in Frage zu stellen, welchen Weg wir nach der Pandemie einschlagen wollen, und andere Gesellschaftsentwürfe zu diskutieren, wird die Last der Pandemie privatisiert. Konzerne werden hingegen großzügig mit Steuergeldern unterstützt. Mark Fisher prägte für diese Alternativlosigkeit den Ausdruck kapitalistischer Realismus und meint damit einen Denkrahmen, der die bloße Existenz alternativer Strukturen und Gesellschaftsordnungen nicht zulässt. In der Krise verschärft sich die Logik des Systems, anstatt brüchig zu werden. 

Die Folgen spüren viele am eigenen Leib. Im letzten Jahr gab es einen immensen Anstieg an psychischen Erkrankungen. So berichteten 80% der Ärzt*innen, dass sie häufiger als zuvor eine Depression diagnostizierten. Dabei war diese, mit über 5.2 Millionen Betroffenen in Deutschland schon vor der Pandemie die neue Volkskrankheit. Dass so viele Menschen darunter leiden, wird einfach hingenommen – es werden nicht Ursachen, sondern nur Symptome bekämpft. Für Fisher hingegen, der selbst an einer Depression litt, und sich 2017 das Leben nahm, war auch das ein systemisches Problem. Die Privatisierung von Stress führt zu einer Entpolitisierung von psychischer Gesundheit, die gesellschaftliche Solidarität durch individuelle Verantwortung ersetzt.

Gerade wir Studierende haben das im letzten Jahr zu spüren bekommen. Zunehmender Stress durch übermäßige Anforderungen in den Online-Kursen, Vereinsamung, Zukunftsängste, finanzielle Unsicherheit und so weiter. Natürlich war es notwendig, sich an die Maßnahmen zu halten, um zur Eindämmung der Pandemie beizutragen, und global gesehen befinden wir uns trotz allem in einer extrem privilegierten Lage. Aber die Universitäten versagen in ihrer gesellschaftspolitischen Rolle: Hier ist kaum noch Raum, um sich darüber Gedanken zu machen, in was für einer Welt wir eigentlich leben wollen und sollen. Es fehlt schlicht an Zeit, um sich eingehend mit schwierigen Themen auseinanderzusetzen. Zu groß ist der Druck, im verschulten System schnell zu studieren und dabei möglichst effizient zu sein. Zwischen zahllosen Abgaben, Hausarbeiten und Referaten macht man sich keine Gedanken über die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns. Mehr Leistungspunkte, mehr Praktika und ab ins Prekariat, das scheint die alternativlose Zukunft für die Generation  Z(enjob).

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