FURIOS verreist: Stadtgewordene sozialistische Utopie

Sterbende Industriestadt oder Nachhall der Idee von einer besseren Welt? Im brandenburgischen Eisenhüttenstadt lässt sich gut über Stadtplanung und Planstädte nachdenken, findet Kira Welker.

Am Platz des Gedenkens wächst Unkraut über die sowjetische Erinnerungsarchitektur. Foto: Kira Welker

In der Ferienserie „FURIOS verreist“ berichten Autor*innen von ihren Erlebnissen unterwegs.

„Erstmal schon wegen der Wohnung, und dann wegen die Arbeit, nech…?” Etwas nervös steht der junge Mann in seinem eigenen Wohnzimmer und erläutert seine Entscheidung, nach Eisenhüttenstadt zu ziehen. Vor ihm steht die Fragestellerin – eine westdeutsche Fernsehjournalistin mit neugierig ausgestrecktem Mikrofon. Der Dokumentarfilm aus den 1960er-Jahren sollte dem Fernsehpublikum in der BRD die Lebensrealität in einer wenige Jahre zuvor erbauten brandenburgischen Industriestadt nahebringen.

Eisenhüttenstadt wurde allerdings genau andersrum konzipiert: zunächst die Arbeit, dann die daneben liegenden Wohnblöcke. Als Eisenhüttenstadt auf einer zuvor fast brachliegenden Fläche an der deutsch-polnischen Grenze innerhalb kürzester Zeit hochgezogen wurde, wurde 1950 mit dem Bau eines Eisen- und Stahlwerks begonnen – des Eisenhüttenkombinats Ost, kurz EKO. Abgeschnitten von den Industriestandorten im Ruhrgebiet, sollte damit eine eigene Roheisenversorgung für die Region geschaffen werden. Neben dem Werk entstand als Wohnraum für seine Beschäftigten eine Planstadt aus dem Nichts, idealtypische Verwirklichung der kurz zuvor vom Ministerium für Aufbau formulierten Grundsätze des Städtebaus.

So ordnet sich die Stadt um eine zentrale Achse, die Lindenallee, die auf das Stahlwerk zuläuft. Noch heute sieht man, auf dieser Straße stehend, die Schornsteine des EKO über der Stadt aufragen. Um diese Einkaufs- und Repräsentationsmeile gruppieren sich die ursprünglichen Wohnblöcke, Komplexe aus mehrstöckigen Mietshäusern, großzügigen Innenhöfen und Gebäuden des gemeinschaftlichen Lebens. Eisenhüttenstadt entstand in mehreren Stadien, die zugleich die Phasen realsozialistischer Architekturstile zeigen: Die Innenstadt im sozialistischen Klassizismus ist umgeben von funktionalistischen Plattenbauten, um der wachsenden Bevölkerungszahl gerecht zu werden. Die ursprünglich für 25.000 Menschen geplante Stadt war zwischenzeitlich Zuhause für über 50.000.

Die unsichtbare Hand des Marktes am Reißbrett?

Von Berlin aus ungefähr eine Stunde Fahrt in zwei Regionalzügen und ein kurzer Spaziergang entlang einer vielbefahrenen Fernstraße, schon steht man auf der Lindenallee und blickt auf die Schornsteine des EKO. Doch warum diese Reise antreten, wenn man sich auch einfach in der Hauptstadt vergnügen könnte? Die Tourist*inneninfo in Eisenhüttenstadt wirbt mit dem „größten Flächendenkmal Deutschlands”, die Innenstadt ist eine begehbare Visualisierung realsozialistischer Stadtplanung.

Ein Geschichtsausflug also, ein Freilichtmuseum, 60 Quadratkilometer „wisst ihr noch, die DDR”? Sicherlich, aber auch ein Spaziergang durch einen Raum, der nicht vom Privateigentum an Boden geprägt wurde, und damit eine Reise in ein stadtplanerisches Paralleluniversum. Denn eine stark von marktwirtschaftlichem Denken geprägte Flächenplanung scheint in der BRD selten auch nur hinterfragt zu werden – selbst wenn Lebensqualität, Zusammenleben und Zugänglichkeit der Innenstädte offensichtlich darunter leiden.

Schon in den 1960er-Jahren schrieb der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich in Die Unwirtlichkeit unserer Städte über den westdeutschen Städtebau nach 1945: „Es ist wohl von niemandem ernstlich bestritten, daß die Misere des deutschen Wiederaufbaus eng mit der Zufälligkeit der Besitzverteilung, den spekulativen Bodenpreisen und dem ausgebliebenen Versuch zu räumlicher Neuordnung der Stadtareale zusammenhängt. Denn Privatbesitz, unbeschadet seiner unter Umständen für die Gemeinschaft tödlichen Auswirkungen, ist ein Tabu, ein Fetisch, an den niemand zu rühren wagte.”

Um das zu thematisieren, ist gar keine kritiklose Idealisierung des Realsozialismus und seiner nichteingelösten Ansprüche nötig. Es bleibt ein unerwartet gutes Gefühl, in Eisenhüttenstadt nur wenige Schritte von der Hauptstraße entfernt auf riesige geteilte Grünflächen und helle Wohnblöcke mit individueller Fassadengestaltung zu stoßen, die über eine Genossenschaft explizit als Wohnraum für Arbeiter*innen geplant und vermietet wurden. Und so beschleicht einen zwischen Clara-Zetkin-Ring und Bertolt-Brecht-Allee irgendwann die Ahnung, dass die vermeintliche Alternativlosigkeit der marktwirtschaftlich organisierten Verteilung von städtischem Raum eben doch nicht ohne Gegenentwürfe dasteht.

Von sterbenden Stahlwerken und der Verkleinbürgerlichung

In einem ehemaligen Kindergarten in Wohnblock II ist das kulturhistorische Museum Utopie und Alltag untergebracht. Seit einigen Wochen wird dort in der Ausstellung Ohne Ende Anfang die Entwicklung sozialistischer Industriestädte nachgezeichnet. Sie setzt ein in den Jahren des Zuzugs und Aufbaus, stellt aber auch die Frage nach einer möglichen Zukunft für Industriestädte ohne die sie prägenden Industriestätten. Denn die Zukunft des EKO ist unsicher. Von zwischenzeitlich bis zu 16.000 Beschäftigten sind nur noch ca. 2500 übrig geblieben, die nach wie vor um ihren Arbeitsplatz fürchten. Transparente in der Innenstadt weisen auf die Gefahr eines ständig von der vollständigen Schließung bedrohten Standortes hin. Gleichzeitig mit der Beschäftigtenzahl des EKO schrumpfte auch die Bevölkerung der Stadt – um knapp die Hälfte gegenüber ihrem Höchststand.

Der Umgang Eisenhüttenstadts mit dieser Abwanderung ist Gegenstand der letzten Ausstellungsräume. Insbesondere in den Plattenbausiedlungen in den äußeren Stadtteilen wurde leerstehender Wohnraum abgerissen. Auf den freiwerdenden Flächen entstehen teilweise wieder Eigenheime – an die Stelle geteilten öffentlichen Raums tritt wieder das durch Hecke und Gartenzaun sauber eingerahmte bürgerliche Kleinfamilienheim. Die Wohnkomplexe um die Lindenallee bleiben zwar bestehen und wurden gründlich saniert, hier scheinen die Mieten aber ungewöhnlich hoch für die brandenburgische Provinz.

Vergessen scheint der Anspruch eines für alle Anwohner*innen zugänglichen Stadtkerns, der in Miethausblöcken hohe Lebensqualität und geteilten Alltag anbietet. Vielleicht geht der Charakter von Eisenhüttenstadt, der utopische Gehalt der sozialistischen Planstadt, also gar nicht mit dem rasanten Abbau des Stahlwerks in seiner Mitte verloren – sondern mit den vereinzelnden Einfamilienparzellen, die an seinen Rändern aus dem Boden sprießen.

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