„Das darf man Studierenden heute eigentlich gar nicht erzählen“

Rosinenbomber, Studierendenstreiks und Mauerfall – vier Alumni der FU berichten, unter welchen Bedingungen früher studiert wurde. Von Philipp Gröschel.

Frank Westphal hat 1948 Geologie studiert. Während seiner Vorlesungen hörte er die Rosinenbomber im Landeanflug auf Tempelhof. Nach einem Semester entschloss er sich, in Freiburg weiter zu studieren und wurde deshalb aus Berlin ausgeflogen. Heute lebt er in Tübingen.

Brigitte Lutz-Westphal ist 1992 in die Fußstapfen ihres Vaters getreten und hat Mathe auf Lehramt an der FU studiert. Gewohnt hat sie für 120 Mark in der Hardenbergstraße. Heute ist sie selbst Professorin an der FU und setzt sich für mehr Dialog zwischen Studierenden und der Professor*innenschaft ein.

Margarete Hecker fing 1960 an der FU das Studium der Soziologie, Geschichte und Pädagogik an. Ihr Studierendenzimmer war nicht beheizbar, weshalb sie immer mit Wärmflasche und heißem Tee gelernt hat. Heute engagiert sie sich in Darmstadt für ausländische Studierende.

Christian Holst hat von 1988-1991 Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut studiert. Er hat miterlebt, wie das OSI besetzt, verbarrikadiert und in Ulrike-Meinhof-Institut umbenannt wurde. Heute lebt und lehrt er in Frankfurt am Main.

Die neueste Matrikelnummer der Freien Universität besteht aus sieben Ziffern. Frank Westphals Matrikelnummer – die 1626 –  hatte nur vier, denn er und gerade mal 2139 weitere Studierende erlebten damals die Gründung der FU im Wintersemester 1948 mit. Die Stadt wie das Land waren geteilt – West-Berlin blockiert. Rosinenbomber brachten den hungernden Menschen Lebensmittel. Mittlerweile ist das mehr als 70 Jahre her. Sowohl die Freie Universität als auch das Studieren selbst haben sich seitdem verändert.

Als Westphal im ersten Semester an der FU Geologie zu studieren begann, fanden die meisten Veranstaltungen noch unter primitiven Verhältnissen statt. „Eine Vorlesung zu Verkehrsgeografie hatten wir auf Bierbänken in einem eiskalten Hörsaal, wo man auch nicht mitschreiben konnte“, erinnert er sich. Die kleine Studierendenschaft habe aus Kriegsheimkehrenden, Studierenden der Ostunis und einigen Neulingen bestanden.

Nur wenige Jahre später kam auch Margarete Hecker aus München an die erst zwölf Jahre alte Universität. Die damals bereits ausgebildete Sozialarbeiterin schloss sich schnell dem jüdischen Professor Fritz Borinski an, der das Ziel hatte, Deutschland beim geistigen Wiederaufbau zu helfen und die Sozialarbeit von der braunen Ideologie zu befreien. Auch an der FU war diese in den 60ern noch vertreten. „Viele, die das NS-System getragen hatten, waren wieder in Amt und Würden“, sagt Hecker heute. Die Zeit, in der sie studierte, war geprägt von der Studentenbewegung und von Persönlichkeiten, wie Rudi Dutschke, der damals täglich in der Mensa Reden gehalten habe. Hecker selbst war auch involviert, hat mit Freund*innen Brote für Protestierende geschmiert und über Barrikaden geworfen. Zudem schmuggelte sie für Studierende in der DDR Bücher über die Grenze: „Es gab viel Literatur, zu der man dort keinen Zugang hatte. Als Gegenleistung bekamen wir Einladungen zu Brecht-Theaterstücken.“

40 Jahre nach ihrer Gründung, im Jahr 1988, kam Christian Holst an die FU. Doch schon wenige Monate danach stand der Lehrbetrieb still. Im Rahmen des UniMut-Streiks, der sich gegen politische Einmischung in die Universitätslehre richtete, wurden sämtliche Institute besetzt und teilweise umbenannt. „Das war Politik von der praktischen Seite“, sagt Holst. „Da habe ich gelernt, wie anfällig Basisdemokratie für kleine extreme Gruppen ist. Beschlüsse, die die studentische Generalversammlung einmal getroffen hatte, konnten nicht infrage gestellt werden. Wenn die letzte U-Bahn in die Stadt gefahren und nur noch der harte Kern anwesend war, machten sie die Beschlüsse dann unter sich aus.“ Holst erlebte als FU-Student den Fall der Mauer: „Es war eine spannende Zeit, weil man merkte, dass man bei einem Umbruch dabei ist. Kein Mensch wusste, in welche Richtung es gehen würde.“

Die Rost- und Silberlaube im Bau in den 70ern. Quelle: FU Berlin Universitätsarchiv, Fotograf: Reinhard Friedrich, Foto-Slg., RF-0000-125

Auch Brigitte Lutz-Westphal hat in den 90ern gestaunt, was im Zuge der Wende alles passierte. Die Dahlemer Universität wirkte auf sie sehr persönlich. Tutorien hätten, zumindest in ihrem Fach Mathematik, nur zehn Teilnehmende gehabt. Heute ist die FU eine Massenuni, eingebettet in die Berlin University Alliance und internationale Netzwerke, die den Berliner Hochschulen noch mehr Bedeutung verschaffen sollen. Dadurch rückt besonders die Forschung in den Fokus. Als Margarete Hecker und Christian Holst studierten, waren es vor allem die Studierenden, die die Universität prägten. „Wir haben“, führt Holst aus, „durch den Streik damals den Diskurs bestimmt. Es ging um die Themen Regelstudienzeit und Bafög, um den Streit „Studierende gegen die Struktur des Bildungssystems“.“ Früher habe es immer Leute gegeben, die schnell auf die Barrikaden gegangen sind, während die Ausrichtung der Studierenden von heute eher berufsorientiert sei. Auch Hecker nahm die FU zu ihrer Zeit als äußerst aktiv wahr: „Die Nachkriegszeit hat sehr auf uns gewirkt und wir wollten uns an dem geistigen Neuanfang und der Kritik am Bestehenden beteiligen.“

Nicht nur die Bedeutung der Universitäten, sondern auch die Studierendenschaft hat sich verändert. Die Gemeinschaft, die Unipräsident Günter Ziegler nicht müde wird zu betonen, ist heute eine andere. Vor allem aber hat sich ihr Fokus verlagert. „Die Uni ist heute nicht mehr der Hauptlebensort“, sagt die FU-Professorin Lutz-Westphal.

Die vier Studierenden aus vier verschiedenen Jahrzehnten nehmen alle besonders eine Veränderung stark wahr: Zeitmangel. Frank Westphal bemerkt das bei seinen Enkelkindern. „Wir haben uns ausgesucht, was wir studieren“, erklärt er. „In meinem ersten Semester in Freiburg habe ich Heidegger gehört, nur um ihn mal kennenzulernen, obwohl ich Geologie studiert habe. Man hatte die Zeit, aber keinen Zwang, etwas zeitig abzuschließen.“ Auch finanzielle Zwänge seien ein Grund für den heutigen Zeitmangel, ergänzt seine Tochter Brigitte. Studierende würden durch gestiegene Mieten gezwungen, mehr zu arbeiten und seien dadurch weniger auf dem Campus. Ohnehin sei die Gemeinschaft durch die Pandemie verschwunden.

Christian Holst sieht den Zeitmangel teilweise dem Bologna-Prozess geschuldet, der ab 1999 europaweit Studiengänge vereinheitlichte. Dadurch sei das Studium wesentlich verschulter geworden. „Ich glaube, ich würde mich heute unwohler fühlen, da ich ein neugieriger Mensch bin und mich auch mit Themen außerhalb des Kernkurrikulums befasst habe.“ Für Frank Westphal entstehen durch feste Studienpläne und den Zeitdruck unfreie Menschen: „Die Freiheit, die wir damals hatten, das darf man Studierenden heute eigentlich gar nicht erzählen.“

Trotz dieser negativen Entwicklungen habe es auch Fortschritte gegeben, sagen die Alumni. Für Holst seien die Übertragbarkeit von Leistungen, beispielsweise zwischen Studiengängen, und Erasmus wichtige Schritte. Margarete Hecker findet gut, dass heute mehr Menschen studieren können: „Viele konnten das früher nicht, obwohl sie sehr gescheit waren.“ Auch die Matheprofessorin Lutz-Westphal will die Vergangenheit nicht überhöhen. „Man neigt dazu, zu sagen: Früher war alles besser“, gesteht sie und führt aus, dass sich Hierarchien nicht mehr so ausdrückten wie damals. „Wir vom Institut sind heute im Dialog mit den Studierenden, was sich ändern könnte. Das wäre früher undenkbar gewesen“, sagt Lutz-Westphal, aber kritisiert: „Wenn ich nach Drittmitteln und Publikationen bewertet werde, wo ist da die Luft, etwas mit den Studierenden auszuarbeiten?“

Wenn sie sich etwas von der Freien Universität wünschen könnte, wäre das mehr Dialog zwischen Studierenden und Professor*innen, um das Studium für alle besser zu machen. „Ich kriege nichts dafür, dass ich mich mit meinen Studis hinsetze, aber ich mache es trotzdem.“

Das Alumni-Büro der Freien Universität half bei der Suche nach Interviewpartner*innen. Die Redaktion bedankt sich dafür. Das Alumni-Netzwerk freut sich jederzeit über neue Registrierungen.

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