Angst als Verkaufshit – Dystopie in Videospielen

Dystopien in Videospielen haben Konjunktur. Wie verändert das unseren Blick auf die Zukunft? Und werden wir durch sie zu ängstlicheren Menschen? Von Lisa Hölzke und Johannes Bauer

In der Zeitung lesen wir von einer mysteriösen Infektion, die unser Land seit einigen Tagen befällt. Wir denken uns noch nichts dabei. Doch dann werden wir mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Zähnefletschend greift uns der Nachbar an. Auf den Straßen herrscht Chaos: Menschen wollen andere Menschen zerreißen. Es geht um das reine Überleben. Von einer Sekunde auf die andere befinden wir uns in einem Albtraum – in einer Dystopie.

So erlebt der*die Spieler*in den Anfang des Videospiel-Hits The Last of Us. Auch dessen Nachfolger wurde zum Erfolg und brach im Jahr 2020 Verkaufsrekorde. Belohnt wurde die Serie mit zahlreichen Preisen. Andere Videospiele mit dystopischem Setting wie Cyberpunk 2077 verkaufen sich ebenfalls millionenfach. Woher kommt dieser Hype?

Seit Jahrzehnten werden wir in der Popkultur, ob in Film, Literatur oder Videospiel, mit Dystopien konfrontiert. Schon 1826 zeigte Mary Shelleys Roman The Last Man eine Gesellschaft, die durch den Ausbruch einer Seuche zerfällt. Parallelen zu The Last of Us sind nicht nur im Namen zu erkennen. „Dystopien handeln von Krisen- und Drohszenarien als Visionen des gesellschaftlichen Zusammenbruchs. Sie befassen sich etwa mit Ideen des Totalitarismus, der Barbarei und der sozialen Apathie”, erklärt Dorit Müller, Literaturwissenschaftlerin an der Freien Universität. Aber auch ökologische Krisen, ein alles beherrschender Kapitalismus und ›der gläserne Mensch‹ sind immer wieder Themen. Damit gehen meist eine erhöhte Gewaltbereitschaft sowie ein Moralverlust einher. Es sind also allerhand Zukunftsängste, die unsere Gesellschaft in der Gegenwart beschäftigen und denen wir uns in diesem Genre freiwillig stellen. „Dystopien partizipieren am gesellschaftlichen Diskurs über Zukunftsentwicklungen”, so Müller

Indem wir uns mit dem*der Protagonist*in identifizieren, kämpfen wir zusammen mit ihm*ihr gegen das Regime oder die Missstände. Das Medium Videospiel nimmt hier eine besondere Stellung ein, da der*die Spieler*in aktiv am dystopischen Setting teilnimmt. Gerald Farca, Forscher für Game Studies und Culture, schreibt in der Monografie Playing Dystopia, dass der*die Spieler*in durch die Involvierung in die fiktive dystopische Welt Rückbezüge zu gegenwärtigen, realen Missständen ziehen kann. Auch wenn er*sie im Medium selbst an der Dystopie scheitern kann oder muss, soll er*sie ein Bewusstsein für gefährliche soziale und politische Tendenzen in der Gegenwart entwickeln. Die Dystopie kann somit als Warnung dienen. 

Wenn wir, die Spielenden, in The Last of Us also der Extremistengruppe Fireflies begegnen, müssen wir uns mit dem Spannungsverhältnis zwischen ihren Ideologien (Befreiung von militärischer Unterdrückung) und deren Mitteln (terroristischen Anschlägen) auseinandersetzen. Dadurch können wir ähnliche Konflikte ebenso in der Gegenwart erkennen. Auch die Angst nimmt im Spiel eine entscheidende Rolle ein: Wenn wir durch das zerfallende Kellergebäude eines alten Krankenhauses schleichen und erschrocken mithilfe des Controllers die Blickrichtung ändern, weil wir in der drückenden Stille plötzlich Schritte hören, schützt diese Angst uns vor Gefahren.

“Die meisten Menschen empfinden Angst in bedrohlichen Situationen. Das ist gesund. Angst wird nur dann problematisch, wenn sie übermäßig ist”

Babette Renneberg, Psychologin

Sie forscht an der FU zu Angst- und Persönlichkeitsstörungen. Da Menschen Konsequenzen ihres Handelns fast nie im Jetzt fürchten, sind Ängste immer zukunftsgerichtet. Menschen mit einem sehr hohen Level an sogenannter Grundangst fürchten sich schnell. In den letzten Jahrzehnten ist diese wahrgenommene Angst in der westlichen Welt immer weiter angestiegen, zeigt eine Studie von Jean M. Twenge aus dem Jahr 2004. Paradoxerweise wird diese Welt im gleichen Zeitraum immer sicherer, wie beispielsweise der Rückgang von Verkehrstoten belegt. Neben einer Enttabuisierung von Angst könne dies auch mit dem erweiterten Konsum negativer Nachrichtenberichterstattung zusammenhängen.

Mediale Dystopien nehmen also Bezug auf unsere Ängste und bieten uns eine Erprobung dieser an. Eine Studie der Zeitschrift für Zukunftsforschung stellte an Proband*innen fest, dass dystopische Medien Zukunftsängste aber ebenso fördern können. Die Testpersonen, die oft dystopische Medien konsumierten, hatten am meisten Angst vor Krieg und Klimakatastrophen, Gewaltzunahme und Moralverlust sowie dem Kampf ums Überleben. Außerdem zeigte sich, dass die Konsument*innen teilweise ein verändertes zukunftsgerichtetes Verhalten anstrebten, um der negativ gezeichneten Zukunft entgegenzusteuern oder sich vor ihr zu schützen.

Die zunehmende Frequenz öffentlicher Krisendebatten führt zu einem Anstieg medialer Umsetzungen der Themen, die wiederum die Zukunftsängste der Bevölkerung in bestimmte Richtungen kanalisieren.

Dorit Müller, Literaturwissenschaftlerin

Auch eine nicht repräsentative Umfrage von FURIOS kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Rund die Hälfte der Befragten macht sich große Sorgen um die Zukunft. Am häufigsten fürchten sie sich vor einer totalitären politischen Führung, gefolgt von der Klimakrise und der derzeitigen Pandemie.

Die FURIOS-Umfrage zeigt außerdem: In Kontakt mit Dystopien kommen die Befragten vor allem durch Literatur, Filme und Musik. Videospiele landen bei Studierenden auf Platz vier. Eine mitreißende Geschichte mit spannenden Charakteren und einer detaillierten Grafik motiviert am häufigsten, einen Titel aus dem Dystopie-Genre zu spielen. Aber auch eine kaputte Welt durch eigenes Handeln ein Stück weit zu verbessern, ist für viele ein Anreiz. Was für aktives Handeln in Videospielen gilt, lässt sich laut Psychologin Renneberg auch auf die Teilbewältigung von realen Krisen anwenden: „Wenn der Mensch aktiv mitgestaltet und das Gefühl hat, er bekommt etwas unter Kontrolle, dann ist das eine Maßnahme, die Angst reduziert.” Auch im preisgekrönten Titel The Last of Us gibt es zumindest einen Funken Hoffnung. Während die Firefly-Rebellen gegen das Militärregime kämpfen, sich überall Infizierte stückweise in Monster verwandeln und gesunde Menschen die letzten verbliebenen Reste bunkern, verhält sich der Protagonist Joel Miller im Kontrast dazu. Er übernimmt selbstlos die Verantwortung und schlüpft in die Vaterrolle für ein junges Waisenkind. Zusammen mit ihnen suchen wir, die Spielenden, ein Entkommen aus dieser dystopischen Welt.

Autor*innen

Johannes Bauer

Politikwissenschaft, Otto-Suhr-Institut, Freie Universität Berlin,
Twittert als @IamJoBr.

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