FURIOS verreist: Auf der Suche nach dem Gestern

Wälder, Bahngleise und ein kleines Dorf. Die Recherche ihrer Familiengeschichte führte Caroline Blazy diesen Sommer für einen Tag nach Brandenburg.

Der Waldabschnitt zwischen Rathenow und Stechow-Ferchesar. Foto: Caroline Blazy

Seit meiner Abfahrt vom Berliner Hauptbahnhof rückt die lärmende Großstadt mit ihren vielen Baustellen immer weiter in die Ferne. Vom Fenster der Regionalbahn aus sehe ich nichts als Wälder an mir vorbeiziehen. Der Bus, auf den ich anschließend am Rathenower Bahnhof warte und der mich ein Stück in Richtung der 1000-Einwohner-Gemeinde Stechow-Ferchesar bringen soll, fällt aus. Noch eine halbe Stunde warten? Eher nicht. Ich mache mich also voller Tatendrang zu Fuß zur über neun Kilometer entfernten Gemeinde auf, da mich der dicht bewaldete Abschnitt zwischen Rathenow und Stechow heute besonders interessiert.

Erst seit ein paar Monaten weiß ich aus einem Gespräch mit meiner mittlerweile 91-Jährigen Großmutter, dass sie als kleines Mädchen während des Zweiten Weltkrieges ab 1939 für etwa drei Jahre im Wald zwischen Stechow und Rathenow gewohnt hat. Meine Großmutter ist seitdem nie an ihren ehemaligen Wohnort zurückgekehrt. Heute lebt sie in NRW.

Mein Weg führt mich über die Bammer Landstraße, links und rechts nur Wald. Immer wieder laufe ich in den Wald hinein, halte Ausschau nach einem Haus, mache mich auf die Suche nach einem Bahnübergang, der laut meiner Großmutter nahe an ihren Wohnort gelegen haben soll. Aus ihren lebhaften Erzählungen weiß ich, dass ihre Mutter ihr manchmal Essen für das Bahnpersonal mitgegeben hat.

Ein Haus im Wald?

Durch Recherchen, die mich vor meiner Fahrt nach Rathenow beschäftigt haben, konnte ich in Erfahrung bringen, wo sich zur Zeit des Zweiten Weltkrieges zwischen Rathenow und Stechow ein Stellwerk der Bahn befand. Die Bahngleise finde ich schnell. Von einem Stellwerk ist allerdings weit und breit nichts mehr zu sehen.

Auch die Suche nach dem Haus gestaltet sich als schwierig. Gibt es dieses Haus überhaupt noch? Wer zu dieser Zeit im Wald wohnte hatte für gewöhnlich keine Adresse. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als mich mithilfe der wenigen Anhaltspunkte meiner Großmutter zu orientieren: vier Kilometer bis nach Stechow zur Schule, die sie mit dem Fahrrad zurücklegte, ein Stellwerk der Deutschen Reichsbahn und ein Hügel, von dem sie und ihre Geschwister im Winter mit einem Schlitten herunterfuhren.

Seit zwei Stunden sind mir keine Menschen mehr begegnet. Ich entferne mich bald vom Waldweg, stakse querfeldein durch Gräser und Geäst – nirgendwo ein Haus zu sehen. Plötzlich kreuzt zwei Meter entfernt ein Reh meine Route, aus einer anderen Ecke ertönt Gegrunze und Geraschel. Ich stehe still, etwas gruselig ist es schon so ganz alleine im Wald. Glücklicherweise scheint das Internet in Brandenburg doch nicht so schlecht wie anfangs befürchtet: Google Maps funktioniert. Ich gelange wieder aus dem Wald heraus.

80 Jahre später in Stechow

Nachdem die Suche nach dem damaligen Wohnort meiner Großmutter erfolglos war – ich habe kein einziges Haus im Wald gefunden – führt mich mein Weg in das beschauliche aber schöne Stechow, wo ich versuche die ehemalige Schule auszumachen, die meine Großmutter einst besuchte. Drei ältere Damen, denen ich auf der Straße begegne und die ich nach dem Mädchennamen meiner Großmutter sowie einer früheren Schule in dem kleinen Ort befrage, können mir nur bedingt weiterhelfen. Das Gutshaus in Stechow diente nach dem Zweiten Weltkrieg als Unterkunft für Geflüchtete aus den Ostgebieten. Ab 1950 erst wurde es zu einer Schule umfunktioniert. Das war allerdings nach der Schulzeit meiner Großmutter.

Die Dorfkirche und der Friedhof in Stechow. Foto: Caroline Blazy

Auch der Besuch des Friedhofs Stechow, unmittelbar an der Dorfkirche gelegen, bringt mir keine neuen Erkenntnisse. Zwar entdecke ich einige Gräber von Personen, die etwa zur selben Zeit wie meine Großmutter geboren wurden und möglicherweise um 1940 mit ihr zur Schule in Stechow gegangen sind, jedoch kann sie sich an keine Namen erinnern.

Meine Zeit in Stechow ist begrenzt. Am späten Nachmittag fährt mich der letzte Bus nach Rathenow, von wo aus ich die Regionalbahn zurück nach Berlin nehme. Neue Erkenntnisse habe ich nicht gewonnen aber dafür das imaginierte Bild meiner 10-jährigen Großmutter im Kopf, wie sie einst in einem Wald in Brandenburg Schlitten und mit dem Fahrrad zur Schule nach Stechow fuhr. Durch meinen Ausflug sind ihre Erzählungen realitätsnaher geworden, gleichzeitig erscheinen sie mir aufgrund der vergangenen 80 Jahre noch immer fern und nicht richtig greifbar.

Weitere Recherchen werden mich womöglich in das Brandenburgische Landeshauptarchiv in Potsdam führen, in der Hoffnung an Informationen zu dem ehemaligen Wohnort meiner Großmutter sowie zu der von ihr besuchten Schule in Stechow zu gelangen. Von meinem Ausflug sind mir einige Fotos geblieben, die ich meiner Großmutter mittlerweile schon zeigen konnte – viel wiedererkannt hat sie nicht. Vielleicht können wir demnächst zusammen den Ort besuchen, an dem sie zeitweise ihre Kindheit verbrachte.

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