„Wenn koordinierte Dummheit als Weisheit ausgegeben wird, muss man Widerstand leisten”

Seit seiner Zeit als griechischer Finanzminister gilt Yanis Varoufakis als Rebell, doch schon zu Studienzeiten schwamm er gegen den Strom. Im Interview mit Luca Klander und Caroline Blazy spricht er über seine Erfahrung als Sprecher der BiPoC-Studierendenschaft, warum er sich in der Eurogruppe nicht isoliert gefühlt hat und weshalb er 1968 gerne 20 Jahre alt gewesen wäre.  

Yanis Varoufakis dozierte bereits an den Universitäten von Cambridge, Sidney und Texas. An der FU hielt er auf Einladung der Kritischen Wirtschaftswissenschaftler*innen einen Vortrag. Foto: Tim Gassauer.

Yanis Varoufakis ist Wirtschaftswissenschaftler, Politiker, Autor mehrerer Bücher und Blogger. Als ehemaliger Finanzminister Griechenlands wurde er 2015 vor allem durch seine umstrittenen finanzpolitischen Vorschläge bekannt, die innerhalb der Eurogruppe und seines eigenen Kabinetts auf Widerstand stießen. Yanis Varoufakis ist Mitbegründer der paneuropäischen Bewegung DiEM25 und wurde mit ihrem griechischen Ableger MeRA25 2019 ins griechische Parlament gewählt.

Das Gespräch fand auf Englisch statt. Das Original ist hier zu finden: English version.

FURIOS: Herr Varoufakis, in der Geologie bezeichnet „erratisch“ einen einzelnen Gesteinsbrocken, der in einer Umgebung liegt, in die er nicht gehört. Sie bezeichnen sich selbst als „erratischer Marxist“.  Was verstehen Sie darunter?

Yanis Varoufakis: Dass ich nicht dogmatisch bin. Marx sagte gegen Ende seines Lebens: „Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin.“ Er bezog sich damit auf den Dogmatismus derjenigen, die in seinem Namen sprechen. Marx selbst war ständig mit sich selbst im Zwiespalt. In seinen Briefen schrieb er: „Das habe ich früher gedacht, es war allerdings völliger Unsinn.“ Marxist*innen hingegen nehmen etwas, das Marx irgendwann in seinem Leben geschrieben hat und behandeln es wie einen religiösen Text.

Mit der Betonung des Wortes „erratisch“ wollte ich also zwei Dinge zum Ausdruck bringen: Erstens, dass ich nicht dogmatisch bin und zweitens, dass ich nicht glaube, dass Marx in allem Recht hatte. Ich bin durchaus bereit, mich von Marx zu distanzieren. Wenn Marx sich von Marx distanziert, warum sollte ich das nicht tun?

Wann und wie haben Sie begonnen sich zu politisieren? Gab es ein konkretes Ereignis, an das sie sich erinnern?

Ich wurde geboren. Das war’s (lacht). Es ist wohl einer der schrecklichsten Züge der Menschheit, dass das Wissen, wo, wann und in welche Familie man hineingeboren wird und welches Geschlecht man hat, ausreicht, um fast alles vorherzusagen. Das ist schrecklich, weil es bedeutet, dass wir nicht frei sind. Wir haben eine illusorische Freiheit, denn letztendlich sind die Weichen des Lebens bereits gestellt und wir können lediglich gewisse Anpassungen vornehmen.

Meine Mutter ist zum Beispiel in einer faschistischen Diktatur geboren und aufgewachsen. Und ich bin in einer faschistischen Diktatur geboren und aufgewachsen – einer anderen Diktatur. Mein Vater hat viele Jahre in einem politischen Gefangenenlager verbracht. Als ich sechseinhalb Jahre alt war, brach die Geheimpolizei mitten in der Nacht unsere Tür auf und entführte meine Mutter – wir sahen sie monatelang nicht. Wie hätte ich da nicht politisch werden können?

Während Ihres Studiums der Wirtschaftsmathematik an der University of Essex haben Sie sich als Sprecher der BIPoC-Studierendenschaft engagiert. Warum? 

Die Universität in Essex war zu jener Zeit sehr radikal. Margaret Thatcher nannte sie die „rote Universität“ und wollte sie schließen. Zum Glück hat sie das nicht getan. Ich engagierte mich in der antirassistischen Bewegung, unterstützte den ANC (Anm. d. Red.: African National Congress) und Nelson Mandela, mit Truppen aus Nordirland und Kampagnen für die atomare Abrüstung. Es gab auch eine Gruppe PoC-Studierender, die die Black Students Alliance gegründet hatten. Wir haben zusammen getrunken, Spaß gehabt und über Politik gesprochen. Einer von ihnen kam zu mir und sagte: „Wir möchten, dass du Sprecher der BSA – der Black Students Alliance – wirst.“ Ich lachte: „Warum? Warum wollt ihr, dass ich das mache?“. Und er sagte: „Überleg doch mal: Wir wollen deutlich machen, dass Schwarz zu sein nichts mit der Hautfarbe zu tun hat. Es hat etwas mit Macht zu tun.“ Genauso wie Feminist*innen – aus gutem Grund – sagen, dass es im Feminismus nicht um Frauen geht, sondern um Machtverhältnisse und Ausbeutung. Und wie könnte man besser zum Ausdruck bringen, dass es nicht um die Hautfarbe geht, als mit einem Sprecher, der weiß aussieht. Jedenfalls sagte er und scherzte: „Ihr Griechen seid die Schwarzen… ihr seid die N**** Europas.“ Das kam von einem Schwarzen Mann, der das Recht hat, das N-Wort zu benutzen. Und ich sah ihn an: „Ich werde es tun.“ Wir hatten einen Plan, wie das funktionieren sollte: Ich würde bei der Versammlung der Studentenvereinigung als Vertreter der BSA aufstehen und sagen: „Wir Schwarzen…“ und alle würden lachen – das war Teil des Plans. Denn dann würde ich sagen: „Seht mal, Leute: Schwarz ist ein Geisteszustand, und wir sind die Schwarzen Europas. Zu uns gehören die Griech*innen, die Ir*innen, die britische Arbeiter*innenklasse“ und so weiter. Das war das Narrativ. Und es hat ganz gut funktioniert.

Zu meinem Entsetzen wurde ich Jahrzehnte später wegen der Aneignung kultureller Symbole, die mir nicht zustehen, angegriffen. Das ist eine Art und Weise, in der sich Identitätspolitik meiner Meinung nach ziemlich reaktionär entfaltet und überhaupt nicht hilfreich ist. Hilfreich wofür? Im Kampf gegen Rassismus.

Wie hat Sie diese Erfahrung in Ihrer weiteren wissenschaftlichen und politischen Laufbahn geprägt?

Oh, das hat sie sehr. Als ich Finanzminister in der Eurogruppe war, habe ich das sehr zu spüren bekommen. Man hat mich wie einen Schwarzen behandelt. Ich konnte die Gesichtsausdrücke von Menschen wie Wolfgang Schäuble sehen: „Wie kann er es wagen, Nein zu sagen?“ Ich vertrat Menschen, welche nicht gerade als treibende Kräfte in der Europäischen Union angesehen wurden. 

Seit Ihrer Zeit als Finanzminister Griechenlands geben Sie sich in der Öffentlichkeit als eine Person, die Widerstand leistet und eher gegen den Strom schwimmt. Wie stehen Sie dazu? Können Sie sich mit dieser Rolle (heute noch) identifizieren?

Ich widersetze mich nicht um des Widerstands willen, ich genieße es wirklich, mit dem Strom zu schwimmen. Aber wenn man sieht, wie koordinierte Dummheit als Weisheit ausgegeben wird, muss man Widerstand leisten. Als ich 2015 griechischer Finanzminister war, gab es politisch gesehen diese Kombination: Da war der am stärksten bankrotte Staat Griechenland, welcher den größten Kredit in der Geschichte der Menschheit erhalten sollte – verbunden mit den schlimmsten Austeritätsmaßnahmen, die das Einkommen der Menschen weiter erschüttern werden. Man muss weder links noch rechts, ja nicht einmal klug sein, um zu verstehen, dass dies ein Verbrechen gegen die Logik ist. Was tun in einer solchen Situation? Die Lüge verbreiten, dass dies die Lösung ist, oder sich dagegen wehren? Ich habe mich gewehrt und ich denke, das sollte jede*r tun. 

Als griechischer Finanzminister kam Ihnen sowohl unter Ihren europäischen Amtskolleg*innen als auch in der eigenen Regierung  eine zunehmend isolierte Rolle zu.

Nein, die ganze Erfahrung war ganz anders. So wurde es in der Presse dargestellt. Erstens war ich in der EU nicht isoliert. Die Tatsache, dass ich gegen alle antrat, hat mir nicht das Gefühl gegeben, isoliert zu sein. Warum? Weil die Leute mir im Rahmen informeller Gespräche sagten, dass ich Recht hatte. Leute wie Mario Draghi haben mir nie gesagt, dass ich im Unrecht sei. Wolfgang Schäuble, als ich ihn irgendwann drängte und fragte, was er an meiner Stelle tun würde, ob er (Anm. d. Red.: dieses Hilfsprogramm) unterschreiben würde, sagte: „Nein, als Patriot würde ich das nicht tun.“ Wenn dir also jede*r sagt, dass du im Recht bist, wenn auch inoffiziell, fühlt man sich nicht isoliert. Man fühlt sich doppelt entschlossen, Widerstand zu leisten.

War Ihr Rücktritt eine Reaktion auf Ihre desillusionierende Erfahrung in der Realpolitik?

Was die Situation in meinem eigenen Kabinett anbelangt, so konnte man kaum von einem Kabinett sprechen. Es war der innere Kreis des Premierministers. Das Fass drohte überzulaufen, und als ich merkte, dass sie sich bereits ausverkauft hatten, war für mich die große Frage: „Wann werde ich zurücktreten müssen?“. Der einzige Grund, warum ich es nicht früher getan habe, war, dass die Leute nicht wussten, was vor sich ging und dass wir nicht als Gruppe geeint waren. Wenn ich aus heiterem Himmel zurückgetreten wäre, hätten die Leute mich für einen Verräter gehalten. Also beschloss ich zu bleiben, bis klar war, dass der Premierminister von dem vereinbarten Kurs abweichen würde. Und das geschah in der Nacht des Referendums, als 60 Prozent für die Fortsetzung des Kurses stimmten und er sagte: „Es ist an der Zeit, (Anm. d. Red.: den Brückenkredit des Euro-Rettungsfonds) zu unterzeichnen“, woraufhin ich zurücktrat. 

Ausgehend von Ihren Erfahrungen: Was ist Ihr Rat an junge Menschen, die politisch etwas verändern möchten?

Ich halte nichts davon, Ratschläge zu erteilen; ich glaube an die persönliche Verantwortung. Letztendlich ist jede*r für sich selbst verantwortlich, auch wenn es um Solidarität geht. Ich bin der festen Überzeugung, dass Solidarität eine Quelle des Glücks und des Erfolgs der Menschheit ist, im Gegensatz zu der rechten Ansicht, dass der Fortschritt der Menschheit auf dem „survival of the fittest” beruht – das ist Unsinn. Der Grund, warum wir als Spezies überlebt haben, ist, dass die Menschen zusammengearbeitet und sich solidarisch gezeigt haben. Letztendlich muss aber jede*r für sich selbst entscheiden, wie er*sie sich definiert. 

Die Freie Universität war das deutsche Epizentrum der weltweiten studentischen Bewegung der 1968er Jahre. Stellen Sie sich vor, Sie würden heute studieren: Wofür würden Sie sich engagieren, wogegen rebellieren?

Oh, ich würde mitmachen, und ich würde es lieben! Ich bin wirklich traurig, dass ich 1968 oder 1980 nicht 20 Jahre alt war, denn das waren interessante Zeiten. Ich bin in sehr langweiligen Zeiten aufgewachsen. Für mich waren die 1990er Jahre die schlimmste Zeit überhaupt. Zum Einen die schreckliche Musik, abscheuliche Ästhetik (lacht) und die allgemeine Illusion, dass wir als Menschheit alles erreicht haben, dass dies das Ende der Geschichte ist. Und von nun an ist jede*r ein*e Unternehmer*in in einem globalen Dorf namens Erde, die*der Sachen verkauft. Meine Güte, das war eine schreckliche Zeit.

Gibt es bestimmte Themen, für die Sie sich engagieren würden?

Ich würde mich gegen alles engagieren: Sexismus, Rassismus, Kapitalismus – all die Themen, für die ich mich auch heute noch einsetze. In der Geschichte gibt es kurze Zeitfenster wie das jetzige, in dem alles möglich erscheint. Windows of opportunity, in denen sich alles ändern kann. Für mich ist der größte Feind der jungen Menschen von heute das, was ich „die Kultur des Inaktivismus“ nenne. Denken Sie an den Klimawandel und die COP26 in Glasgow – das ist ein sehr schmerzhaftes Fiasko. Diese Kultur ist eine große Bedrohung. 


Auf Einladung der Kritischen Wirtschaftswissenschaftler*innen hielt Yanis Varoufakis am 12. November an der FU einen Vortrag zum Thema „Re-thinking Money”.

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