Frustriert, ängstlich, leer, hoffnungsvoll: Viele haben während der Pandemie eine emotionale Achterbahn durchgemacht. Wie sich das Befinden der Berliner*innen von Lockdown zu Lockerung änderte und welche Rolle die Gehirnentwicklung bei jüngeren Menschen dabei spielt, hat Elisa Starck im Gespräch mit Tania Singer erfahren.
Prof. Dr. Tania Singer ist Leiterin des Labors Soziale Neurowissenschaften der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin. Sie betreut das CovSocial-Projekt, das in einer breit angelegten, repräsentativen Studie den Einfluss der Corona-Pandemie auf die Gefühlslage der Berliner*innen untersucht. Das Projekt ist durch Interdisziplinarität gekennzeichnet: neben Neurowissenschaftler*innen der Max-Planck-Gesellschaft sind auch Psycholog*innen der Charité, Statistiker*innen, Meditationstrainer*innen sowie Forschende der Genetik daran beteiligt um herauszufinden, welche Faktoren die menschliche Resilienz beeinflussen.
FURIOS: Guten Tag, Frau Singer. Wie geht es Ihnen aktuell?
Tania Singer: Mir geht es gesundheitlich gut. Ich habe bis jetzt noch kein Covid gehabt, im Vergleich zu allen möglichen Leuten um mich herum. Aber ich beobachte, dass viele um mich herum seelisch nicht so gut drauf sind.
Vergleichbares haben Sie in dem Forschungsprojekt CovSocial festgestellt, bei dem Sie die wissenschaftliche Leitung innehaben. Können Sie dieses Projekt kurz beschreiben?
CovSocial ist ein Forschungsprojekt, das relativ spontan im ersten Lockdown entstanden ist. Für die Datenerhebung haben wir eine Web-App aus einem früheren Forschungsprojekt zur sogenannten CovSocial-App umgerüstet, weil persönliche Befragungen nicht möglich waren. Wir haben pro Person eine Reihe von Fragen erhoben, sowohl zu mentaler Gesundheit wie Depressivität, Stress, Ängstlichkeit oder Einsamkeit, aber auch zu Resilienz, also zu Bewältigungsstrategien und Lebenszufriedenheit sowie zu Faktoren sozialer Kohäsion wie z.B. dem Vertrauen, dem Zugehörigkeitsgefühl und dem sozialen Miteinander.
Zu welchen zentralen Ergebnissen sind Sie gekommen?
Bei unseren vorläufigen Ergebnissen sieht man im ersten Lockdown einen „Lockdown-Schockeffekt”: Im Mittel waren die Berliner*innen vulnerabler, also gestresster, depressiver, einsamer und ängstlicher. Bei der Wiedereröffnung im Juni 2021 gab es einen Erholungseffekt, wobei das Level an Vulnerabilität nicht mehr zum Ausgangsniveau vor der Pandemie zurückgekommen ist.
Beim zweiten längeren Lockdown, von November 2020 bis Mai 2021, haben wir einen sogenannten „Lockdown-Ermüdungseffekt” beobachtet. Die Berliner*innen starteten auf einem niedrigeren Level psychischer Gesundheit, das sich mit jedem Monat stufenweise verschlimmerte. Ängstlichkeit, Einsamkeit, Depressivität und Stress nahmen zu, während die Resilienz, die Kraft, die uns normalerweise vor Stress schützt, und die soziale Kohäsion abnahmen. Vor allem am Ende des zweiten Lockdowns hat das Vertrauen der Berliner*innen in öffentliche Institutionen gelitten. Das ist ein bisschen wie ein Gummiband: Wenn man zu lange daran zieht, dann leiert das irgendwann aus.
Der andere klare Befund, ist, dass die Jüngsten, in unserer Studie die 18-25 Jährigen, am meisten unter den Lockdowns gelitten haben. Bei den Geschlechtern trifft es Frauen stärker als Männer.
CovSocial-Studie: Zahlen und Daten
Die erste Phase der Studie, von Januar 2020 bis März 2021, bestand aus sieben verschiedenen Messzeitpunkten, über zwei Lockdowns und eine Lockerungsphase hinweg. Für die Stichprobe wurden über das Einwohnermeldeamt 56.000 Berliner*innen zwischen 18 und 65 Jahren angeschrieben, bis zum Ende beteiligten sich 1.250 Menschen. Die ersten Ergebnisse wurden Ende November 2021 hier veröffentlicht. Seit Mai 2021 befindet sich das Projekt in der zweiten Phase, an dem 300 Befragte aus der ersten Phase teilnehmen. Ziel ist es, zu untersuchen, inwiefern achtsamkeitsbasierte Übungen dazu beitragen können, die psychische Gesundheit zu verbessern.
Sie haben eben das Bild eines Gummibandes genutzt, um die Auswirkungen von Stress und negativen Emotionen auf die Resilienz zu verdeutlichen. Wie nachhaltig haben die vergangenen Wellen der Pandemie die Psyche und das Sozialverhalten der Berliner*innen geprägt?
Unsere Daten zeigen, dass die Befragten bei der Wiedereröffnung im Juni 2020 ein niedrigeres Niveau an mentaler Gesundheit aufweisen, als vor der Pandemie im Januar. Dazu kommt der Pandemie-Ermüdungseffekt im zweiten Lockdown, der zeigt, dass mit jedem Monat die Vulnerabilität zunimmt. Zusammengenommen sorgt dies dafür, dass die mentale Gesundheit der Berliner*innen trotz Lockerungen immer weiter abnimmt. Die Daten suggerieren, dass die Menschen sich eben nicht so schnell erholen. Daher ist jeder Lockdown für die mentale Gesundheit besorgniserregend, gerade wenn sie sehr nah hintereinanderkommen und lange andauern.
Denken Sie, dass sich das Befinden der Teilnehmenden nach dem Ende der Pandemie wieder auf dem Vorniveau einpendelt?
Wie das dann in einem Jahr aussieht, das weiß ich nicht. Irgendwann erholt sich ein gesunder Organismus auch wieder, wenn der Stressor wegbleibt. Was jedoch an den Daten mit den jungen Leuten erschreckend ist, ist unser Wissen, dass das Gehirn zwischen 18 und 25 noch sehr plastisch ist, das heißt, es entwickelt sich noch und wird geformt. Depressionen, Ängstlichkeit und Stress können diese Hirnentwicklung negativ beeinflussen. Das kann lange und sehr nachhaltige Folgen haben.
Die CovSocial-Studie erhebt Daten von Menschen, die in Berlin wohnen. Hängt das Erfahren der Pandemie davon ab, wo die betroffenen Menschen wohnen, beispielsweise in der Stadt oder auf dem Land?
Dazu kann ich nicht wirklich etwas sagen, weil wir den direkten Vergleich im CovSocial Projekt zwischen Land und Stadt nicht gemacht haben. Es gibt jedoch einen demographischen Unterschied zwischen der Stadt- und der Landbevölkerung. In Berlin gibt es sehr viel mehr Alleinerziehende und alleine wohnende Menschen als auf dem Land. Das könnte einen Unterschied machen. Die Auswirkungen verschiedener Umwelt- und Demographiefaktoren auf die Vulnerabilität untersuchen wird gerade noch.
Im Mai 2021 ging die Studie in eine zweite, praktische Phase, in der einige der befragten Teilnehmenden an einem zehnwöchigen mentalen Online-Training zur Bewältigung von Einsamkeit, Stress und Lebenszufriedenheit teilnehmen konnten. Was zeichnet diese Praxisphase aus?
Wir wissen bereits aus früheren Forschungsstudien wie z.B. dem ReSource Projekt relativ viel über die Effekte von Achtsamkeitstraining sowie Partner-basiertem sozio-emotionalem Training auf die Reduktion von Stress und Einsamkeit. Unsere Frage war: Kann ein minimales Training, was nur online über Apps und Zoom-Coaching stattfindet mit 12 Minuten mentalen Übungen pro Tag, zu positiven Ergebnissen führen? Wir konnten diese Methoden an einer sehr heterogenen Gruppe testen. Die meisten, die bei uns mitgemacht haben, hatten noch nie etwas von Achtsamkeit, Meditation oder sozio-emotionalem Training gehört. Wir haben viel positives Feedback erhalten. Jetzt untersuchen wir, ob sich diese Wirkung dieser Online Trainings auf Stressmasse und die erhobenen Cortisolproben der Teilnehmer*innen, auf Fragebogendaten und Verhaltensmassen auswirken.
Welche mentalen Übungen, die in dem Training angeboten wurden, können Sie zur Überwindung psychischer Belastungen empfehlen?
Im Rahmen des Achtsamkeitstrainings gehören Atemübungen zum Beispiel zu einer der Grundübungen. Das Ziel ist darauf zu achten, im jetzigen Moment anzukommen und sich selbst im Körper zu verankern. Das sozio-emotionale Training enthält sogenannte Dyaden: das ist eine 12-minütige Übung pro Tag, die täglich aber jede Woche mit einem*einer neuen Partner*in durchgeführt wurde. Partner*in A hört fünf Minuten empathisch zu, ohne zu kommentieren, ohne zu urteilen. Währenddessen beantwortet der*die Andere zwei Fragen: Gab es eine Situation, in der du negative Emotionen oder Stress empfunden hast und wie hat sich das im Körper angefühlt? Die zweite Frage ist: Gab es eine Situation, für die du dankbar bist und wie hat sich diese Dankbarkeit in deinem Körper angefühlt? Es geht erst darum, negative Emotionen wahrnehmen und akzeptieren zu lernen und danach positive Ressourcen und Gefühle zu aktivieren.
Angesichts aktueller Inzidenz-Rekorde, der Omikron-Variante und einer geplanten Impfpflicht, wie würden Sie die Gefühlslage der Berliner*innen aktuell einschätzen?
Von meinem rein menschlichen Erleben würde ich sagen, sehr schlecht. Diese ständige Unsicherheit darüber, wie sich die Lebensbedingungen wieder verändern könnten, schafft bei ganz vielen Stress und Ermüdung. Wir sind jetzt zwar nicht in einem offiziellen Lockdown, aber in einer dritten Krisenphase, wo sich Regulationen auch ständig verschärfen und verändern. Meine starke Vermutung ist, dass Einsamkeit, Depressivität und Stress wieder zunehmen. Auch die ständige Berichterstattung über die Pandemie aktiviert immer wieder das Alarmsystem der Menschen, was zu negativen Affekten führen kann. Ich denke, es ist gut, mal das Radio auszuschalten, denn dann kann der Geist auch mal zur Ruhe kommen.
Welchen Mehrwert wünschen Sie sich von den Ergebnissen der Studie, gerade auf Seiten der Politik?
Es geht uns in der Studie auch darum, zu fragen: Welche Gruppen müssen in einer Situation wie der aktuellen Pandemie am meisten geschützt werden? Wir wollen ja für die Zukunft lernen! Bereits vor der Pandemie sprach man von einer „Stress-Pandemic“ und „Narcissism-Pandemic”, also Pandemien im Bereich mentaler Gesundheitsfaktoren. Corona hat das verschlimmert.
Bei der Entscheidung über einen erneuten Lockdown muss wirklich abgewogen werden: auf der einen Seite können Lockdowns vermutlich helfen, Infektionsketten zu entschleunigen, auf der anderen Seite ist es wichtig zu wissen, dass es dabei starke Kollateralschäden gibt, weil die Psyche der Bevölkerung darunter leidet. Man muss berücksichtigen, dass dies dann auch mit physischen Risiken verbunden ist: mentale Vulnerabilität und Depressivität hat einen schwächenden Einfluss auf das Immunsystem und kann im schlimmsten Fall zum Suizid und Tod führen. Eine angemessene Berücksichtigung schaut daher nicht nur auf die Infektionszahlen, sondern auch auf die Kosten für die mentale Gesundheit der Bevölkerung.