Berlin – die Stadt der Gentrifizierung? Caroline Blazy und Lucie Schrage haben mit dem Stadtsoziologen Dieter Rink über Verdrängung auf dem Wohnungsmarkt gesprochen und welche Rolle Studierende in diesem Prozess spielen.
Dieter Rink studierte Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft und Philosophie. Aktuell ist er als Stadtsoziologe stellvertretender Leiter des Bereichs Stadt- und Umweltsoziologie am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig. Zudem lehrte er am Institut für Kulturwissenschaft der Universität Leipzig.
FURIOS: Herr Rink, können Sie uns in einfachen Worten den Begriff der Gentrifizierung erklären?
Dieter Rink: Gentrifizierung lässt sich einfach erklären als Verdrängung durch Aufwertung. Es werden an Wohnungen und Häusern Modernisierungs- und Sanierungsmaßnahmen durchgeführt. Meistens ist das mit einer Verbesserung der Ausstattung der Wohnungen verbunden. Dadurch steigen die Mieten und ansässige Mieter*innen werden entweder durch die Preise ökonomisch verdrängt oder teilweise direkt durch Maßnahmen seitens der Investor*innen und Vermieter*innen.
Und inwiefern betrifft dieser Prozess ganze Viertel oder Städte?
Man kann unterschiedliche Formen von Verdrängung unterscheiden: die direkte Verdrängung aus der eigenen Wohnung, aber auch die indirekte Verdrängung aus dem Lebensstil, also neben der ökonomischen die kulturelle Verdrängung. Das betrifft auch das Image eines Wohnquartiers, das sich wandelt von einer abgewerteten, schlecht beleumundeten Gegend zu einem angesagten Szeneviertel. Das betrifft auch Infrastrukturen und geht von Geschäften, Gastronomie und Freizeiteinrichtungen bis hin zu Straßen.
Das Thema Verdrängung ist gerade in Berlin immer wieder Gegenstand öffentlicher Diskussionen. Wie stark ist die Rolle der Gentrifizierung in der Hauptstadt einzuschätzen?
Wir beobachten vor allem seit den 2010er-Jahren, als viele Städte Zuzug hatten, dass verstärkte Konkurrenz um preiswerte Wohnungen ausgebrochen ist. Berlin ist dafür ein paradigmatisches Beispiel. Dort sind vor allem die Angebotsmieten sehr stark gestiegen, wenn auch von einem niedrigeren Niveau als in anderen Städten wie zum Beispiel München oder Hamburg. Des Weiteren war Berlin durch einen sehr starken Zuzug geprägt. Bis zur Coronapandemie sind pro Jahr zwischen 30.000 und 50.000 Menschen nach Berlin zugewandert. Die Leerstandsquote ist niedrig und der Berliner Wohnungsmarkt sehr angespannt.
Wie entwickelte sich dieser Prozess in Berlin? Wann und wo waren einschneidende Veränderungen zu verzeichnen?
In den 90er-Jahren konnte man schon eine erste Phase der Gentrifizierung in Ostdeutschland beobachten. In den ostdeutschen Großstädten, auch in Ost-Berlin, wurde die Aufwertung begrüßt, weil die Städte flächendeckend verfallen waren, zumindest die Altbauten. Da dachte man sich: Bevor sie verfallen, will man sie lieber teuer sanieren. Das setzte damals insbesondere im Prenzlauer Berg und zum Teil in Mitte ein.
In den 2000er-Jahren stockte in Berlin die Gentrifizierung, weil Berlin von der sogenannten ‚Leerstandskrise’ betroffen war. Das heißt, es gab einen relativ hohen Leerstand und zum Teil stagnierende oder sogar zurückgehende Mietpreise.
Anfang der 2010er-Jahre setzte die Entwicklung massiv ein. Vom Jahr 2010 bis zum Jahr 2011 gab es einen richtigen Sprung beim Zuzug. Dann wurde viel investiert und entsprechend sind auch die Preise sehr stark gestiegen. Im Zuge dessen kam es zu einer Reihe von Gentrifizierungsfällen. Das startete im Prenzlauer Berg, dann ging es in Friedrichshain weiter. Kreuzberg war sowieso schon betroffen; dann Neukölln und jetzt sind auch schon Charlottenburg und der Wedding davon erfasst.
Berlin ist die Stadt mit den meisten Studierenden in Deutschland. Viele von ihnen finden zu Beginn ihres Studiums kein (bezahlbares) WG-Zimmer, geschweige denn eine Wohnung. Wie sehen Sie die Situation als Stadtsoziologe?
Berlin verzeichnete im Wintersemester 2020/21 etwa 200.000 Studierende. Das ist ein Rekord, das ist praktisch eine Großstadt. Es gibt Universitätsstädte wie Marburg, Göttingen oder Heidelberg, die nicht sehr groß sind, aber einen sehr hohen Studierendenanteil haben. Wo also auch der Wohnungsmarkt relativ stark von diesem Segment geprägt ist, zum Teil mit über 20 Prozent der Nachfrage. Das ist in Berlin nicht der Fall. 200.000 Studierende machen in Berlin wenig mehr als fünf Prozent der Einwohner*innenzahl aus. Das fällt als Wohnungsmarktsegment nicht so stark ins Gewicht.
Ungefähr zehn Prozent der Studierenden wohnen in einem Wohnheim. Die Wohnheimplätze des Studierendenwerks sind noch relativ preiswert, bei privaten Anbieter*innen ist es schon deutlich teurer. Das ist ein Bereich, der derzeit wächst. Seit einigen Jahren wurde das studentische Wohnen auch von Investor*innen entdeckt. Student*innenapartments werden als Investmentobjekte gebaut und dann am Anlagemarkt verkauft. Zum Teil kaufen dann auch Eltern die Wohnungen für ihre Kinder.
Tragen Studierende demnach zur Entwicklung der Gentrifizierung in Städten bei?
Ja, dafür gibt es einen Begriff: ‚Studentifizierung’ oder ‚Studentification’. Studierende werden zur Gruppe der ‚Pionier*innen’ gezählt. Das sind diejenigen, die als Erste in abgewertete Viertel gehen, weil es dort Leerstand gibt oder die Wohnungen noch sehr preiswert sind. Zusammen mit Künstler*innen, Kreativen und weiteren Gruppen sind sie diejenigen, die dort zuerst hinziehen und diese Viertel erschließen. Sie sorgen dafür, dass erste Einrichtungen entstehen, beispielsweise im gastronomischen oder auch im Freizeitbereich. Zum Teil entstehen diese auch erst mal zur Zwischennutzung; leer stehende Lokale werden zu Clubs, Ausstellungsorten und Kneipen ausgebaut. Dann ist das Viertel angesagt, es ziehen mehr Menschen dorthin.
Studierende können durchaus im weiteren Fortschreiten von Gentrifizierung selbst zu deren Opfern werden, weil die Preise zu stark steigen. Sie treten mit anderen Gruppen, die auf preiswerten Wohnraum angewiesen sind, in Konkurrenz.
Welche Lösungen gibt es, um den Prozess der Gentrifizierung einzudämmen?
Es ist auf einem kapitalistischen Wohnungsmarkt sehr schwierig, auf den Gentrifizierungsprozess Einfluss zu nehmen. Es gibt verschiedene Maßnahmen, die ihn eindämmen, die Berlin auch schon ergriffen hat. So gibt es in Berlin derzeit 71 Milieuschutzgebiete, die mehr als ein Drittel aller Berliner Mietwohnungen umfassen. In diesen Gebieten wird versucht, teure bzw. Luxussanierungen zu verhindern. Es werden bestimmte Kriterien aufgestellt wie: kein Gäste-WC, kein zweiter Balkon, keine Terrasse oder Videosprechanlage. Ausstattungselemente, die für einen gehobenen Standard oder Luxus sprechen, werden dort untersagt.
Ein weiteres Instrument ist die abgesenkte Kappungsgrenze. Damit wird festgelegt, dass die Mieten in einem gewissen Zeitraum nur um einen bestimmten Prozentsatz steigen dürfen: zum Beispiel in drei Jahren nur um insgesamt 15 Prozent. Damit wird versucht, den Anstieg der Bestandsmieten zu begrenzen. Außerdem gibt es die Mietpreisbremse. Dabei geht es darum, dass die Mieten bei Wiedervermietung nicht mehr als zehn Prozent steigen dürfen.
Wie schätzen Sie die Zukunft von Großstädten wie Berlin in puncto Wohnungsmarkt ein?
In Berlin ist im ersten Pandemiejahr die Einwohner*innenzahl zum ersten Mal seit circa 15 Jahren nicht mehr gewachsen. Insofern ist es zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwierig, sich die Zukunft von Städten in Bezug auf Migration und Nachfrageentwicklung vorzustellen.
Eine Position lautet: Das ist jetzt ein starker Einbruch, danach geht es aber weiter wie vorher. Andere sagen genau das Gegenteil: Danach wird es nicht mehr so wie zuvor, denn durch die Pandemie haben viele die Erfahrung gemacht, dass sie auch von zu Hause aus arbeiten können, und haben nun den Wunsch, auf dem Land zu leben. Tatsächlich sind auch im Umland der großen Städte die Preise gestiegen und es gibt eine zunehmende Suburbanisierung. Ich glaube: Es wird danach anders weitergehen als vorher; es wird durchaus noch Zuwachs in Städten geben, aber nicht mehr so stark wie zuvor, weil auch die Suburbanisierung stärker sein wird. Wir wissen allerdings nicht, wie sich die internationale Migration weiter gestalten wird. Auch Zuwanderung prägt die Zukunft von Städten mit. Das lässt sich mitten in der Pandemie aber nur sehr schwer prognostizieren.