FURIOS fragt sich: Woher kommt die 90er-Nostalgie?

Krieg, Corona und Klimakrise – wenn es für 2022 ein Probeabo gäbe, wäre es mittlerweile gekündigt. Viele begegnen dem traurigen Weltgeschehen mit einem Schwelgen in Nostalgie, sehnen sich nach der Leichtigkeit der 90er-Jahre. Sogar jene, die dieses Jahrzehnt nie erlebt haben. Luca Klander fragt sich: warum?

Feier in den 90ern oder Mottoparty 2022. Foto: Inga Seliverstova/Pexels.

In der Ferienserie „Furios fragt sich” stellen sich Autor*innen die kleinen und großen Fragen des Lebens.

Du wachst auf. Kein langsames Aufwachen, sondern ein Aufschrecken, weil dein Kopf auf deine Brust gefallen ist. Vielleicht hat jemand geklopft. Oder es war die vom dumpfen Bass vibrierende Wand. Kurzer Optikcheck im Spiegel: Der Lidstrich ist noch da, der funkelnde Strass auch, die Baggy Pants sitzen. Noch einmal ausatmen, die Tür aufstemmen und das gedämpfte Hämmern verwandelt sich in frenetisches Knallen. Lichtblitze erhellen den dunklen Saal im Sekundentakt. Du läufst durch gefrorene Bilder der tanzenden Menge. Haare peitschen dir ins Gesicht – eine Raverin hat den gleichen Haarschnitt wie Kurt Cobain. Daneben ein Typ mit blondierten Stachelhaaren und Pupillen wie Oreos. Ein Sonntagnachmittag im Berlin der Neunziger.

Bitter Sweet Symphony

Da oben ist die Tür. Durch den Spalt drückt helles Licht herein, lässt den wabernden Staub glitzern. Du trittst aus dem Bunker und blinzelst ins Sonnenlicht. In deinem Kopf ein Klangteppich, Geigen läuten die Melodie der bittersüßen Sinfonie als Ohrwurm ein. Du läufst über Berliner Brachland, blickst auf leerstehende Gebäude und Baustellen, die vom fortwährenden Wandel künden. 

Das Berlin der 90er ist im Einheitsrausch: An der gefallenen Mauer knien Künstler*innen. Sprühdosen zischen und Arschgeweihe blitzen. Girlies rauschen auf Inlinern vorbei, auf der Oberbaumbrücke rennt dir Lola entgegen. Nach Jahren der Agonie in den 80ern, scheint alles in Bewegung zu sein. Forrest läuft, Escobar und Dagobert liefern sich Verfolgungsjagden mit der Polizei, David und Pamela rennen in Zeitlupe über die Strände Malibus.

Urlaub in den 90ern, danach fühlt es sich an nach durchzechter Nacht an der Spree zu sitzen und die im Sonnenlicht funkelnde Welt um mich herum zu beobachten. Doch was sich wie ein Flashback in die 90er anfühlt ist tatsächlich nur eine Illusion. Eine Sehnsucht nach einer längst vergangenen Zeit, nach einem so schillernden Jahrzehnt, das ich und die meisten meiner Komiliton*innen nie erlebt haben. Mein Gedächtnis spielt mir einen Streich. Doch ich bin mit der scheinbaren Erinnerung nicht allein, davon zeugen Revivals von Friends, der Mythos der Berliner Raveszene und die fortwährende Faszination um Oasis, TrashTV und Nirvana. Woher kommt diese Nostalgie einer ganzen Generation für das Jahrzehnt zwischen Mauerfall und 9/11?

It Ain’t Over‚ Till It’s Over

Es scheint als seien die 90er eine bessere, freiere Zeit gewesen, denn wer dem Ende der Geschichte entgegenstand, brauchte keine Zukunftsangst zu haben. In den Neunzigern wägte sich eine postmoderne Welt in Endzeitstimmung. Der Kalte Krieg war vorbei, die liberale Demokratie hatte sich durchgesetzt, Innovationen verhießen unendliche Möglichkeiten. Warum also nicht noch einmal das Leben in vollen Zügen genießen, mit dem Jetski vor Ibiza kurven, Extase auf der Loveparade? Alle durften Musik machen, auch DJ Bobo und Mr. Coco Jambo. Jeder Trash wurde umarmt. Dieser Hedonismus, diese Lebensfreude hatte etwas Pures. 

Bei aller Liebe zum Trash ist es gleichzeitig ein Jahrzehnt der Digitalen Revolution. Computer und Mobiltelefone verbreiten sich, und im CERN wird erfunden, was ein neues Zeitalter einläuten wird: Das World Wide Web. Doch von dem Potenzial und den Risiken dieser Innovationen wussten die Menschen noch nicht viel. Das Internet war zwar geboren, doch Social Media gab es noch nicht. Alles wurde mit einer gewissen Naivität betrachtet, einem guten Willen, der nicht ahnte, welche Wirkungen diese Erfindungen entfesseln würden. Nach der Friedensbewegung der 60er, der Frauenbewegung der 70er und der Umweltbewegung der 80er waren die Menschen müde von der ständigen Politisierung des Weltgeschehens und entschieden sich für Hedonismus und Verdrängung. 

Sportler*innen waren noch nicht gedoped, sondern motiviert. Den Eisbären ging es prima, Wetter war noch kein Klima. Brisante Buchveröffentlichungen und ungenierter Voyeurismus bei Big Brother wurden erst hinterfragt, als Prinzessin Diana auf der Flucht vor Paparazzi bei einem Autounfall starb. Während wir in heutigen Zeiten von Wokeness sprechen, befand sich die Welt der Neunziger in einem Dämmerschlaf.

Ready or Not Here I Come

Doch mit der Jahrtausendwende wird sie ruckartig aus dieser Sedierung gerissen: Der 11. September 2001 ruft auf einen Schlag in Erinnerung, dass sich im Schatten der sorglosen Popkultur Dinge geändert haben. Religiöser Fanatismus hat den Hedonismus abgelöst. Die komplexen Verstrickungen einer globalisierten Welt treten zum Vorschein. Erst jetzt fällt auch die Illusion der friedlichen Welt im vergangenen Jahrzehnt in sich zusammen. Nach der Wiedervereinigung gab es keinen Frieden, höchstens Freude und Eierkuchen. 

Doch auch in der individuellen Wahrnehmung kam es zu einer Zeitenwende. Alle schönen und weniger schönen Facetten des Internets traten ans Licht. Und ein neues Gefühl der Parallelität. Wir schauen Netflix, sehen in Storys, was Freund*innen und Prominente gerade machen und werden durch Eilmeldungen konstant an das traurige Weltgeschehen erinnert. Dazu kommt das ständige Hinterfragen unseres Handelns. Sich einen Cappuccino zu bestellen, wird zum Politikum. Nehme ich Hafermilch, um das Klima zu schonen und keine Tiere zu quälen? Darf es Oatly sein, auch wenn diese Firma Trump unterstützt und in Unternehmen investiert, die die Abholzung des brasilianischen Regenwaldes vorantreiben? 

Wo ist die Leichtigkeit geblieben? So entsteht ab und zu der Wunsch, zurück in die Zeitkapsel der 90er zu steigen und sich ganz der Illusion hinzugeben, damals sei alles besser und irgendwie leichter gewesen. In der Erinnerung, die uns in der Musik, in Filmen und Serien von dieser Zeit vermittelt wurde. In der der Mythos des armen, aber sexy Berlins noch lebt und noch nicht von der Realität eingeholt wurde. Die Bilder bleiben im Kopf und die Beats im Ohr. Und ein bittersüßer Geschmack. 

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1 Response

  1. Anne C sagt:

    Ein sehr schöner Artikel. Als Kind der Neunziger muss ich jedoch kurz darauf hinweisen, dass das Lied Coco Jambo heißt und der Künstler Mr. President. 🙂

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