Über 500 Millionen Menstruierende weltweit sind von Periodenarmut betroffen – mit weitreichenden Folgen. Die FU-Studentin Emily Wilbrand möchte mit ihrem Stoffbindenprojekt Lionne diesem Problem etwas entgegensetzen. FURIOS hat Emily zum Gespräch über ihren Kampf gegen Periodenarmut und ihren Freiwilligendienst in Togo getroffen.
Habt ihr schon einmal eure Periode bekommen und keinen Tampon zur Hand gehabt? Was sich für die meisten FU-Studierenden ganz einfach mit dem Gang zur nächsten Drogerie lösen lässt, stellt für menstruierende Personen ohne Zugang zu Periodenprodukten eine enorme Belastung dar. Über 500 Millionen Menstruierende* weltweit sind von Periodenarmut betroffen. Das bedeutet, sie können sich aus finanziellen Gründen keine Periodenartikel leisten und/oder haben keinen Zugang zu Sanitäranlagen, um diese hygienisch wechseln zu können. Lionne (französisch für Löwin, Amtssprache in Togo) setzt mit der Produktion von Stoffbinden hier an und möchte zudem durch Aufklärungsarbeit nachhaltige Veränderungen bewirken. Über den Aufbau, die Erfolge und Hürden des Projekts hat Emily mit uns auf dem FU Campus gesprochen.
Das Stoffbinden-Projekt Lionne besteht seit Anfang 2020, ist in der togolesischen NGO International Volontaire en Action (IVA) eingebettet und wird vom gemeinnützigen deutschen Verein Woé zon loo e.V. unterstützt. Letzteren haben Emily und ihre Mitstreiter*innen 2019 im Anschluss an ihren Freiwilligendienst in Togo gegründet. Die Idee, sich für Periodenarmut einzusetzen, kam nachdem ein selbstentwickelter Fragebogen gezeigt hatte, dass 70% der befragten Schülerinnen und Studentinnen aufgrund fehlender Periodenprodukte nicht in die Schule oder Uni gehen konnten. Mittlerweile engagieren sich rund 47 Menschen ehrenamtlich für Lionne, sowohl in Deutschland als auch in Togo.
Die weitreichenden Folgen von Periodenarmut
Außerdem berichten, laut Emily, viele Menstruierende von Infektionen durch die Chemikalien in den bisher genutzten Einmalbinden. Sie würden daher günstigere Baumwollstoffreste benutzen, die sich auf der Haut rau anfühlen und verrutschen können. Zudem würden sich (junge) Menstruierende oftmals wegen ihrer Periode schämen, sich „unrein” fühlen und sogar ausgegrenzt werden, weil sie nicht oder schlecht darüber aufgeklärt wurden, dass die monatliche Blutung ein vollkommen natürlicher und gesunder Vorgang ist. All dies löst eine Kette an Folgeproblemen für die gesellschaftliche Stellung der Menstruierenden aus: Wenn sie keinen Zugang zu geeigneten Periodenartikeln haben, fehlen viele von ihnen in der Schule und bei der Arbeit. Dadurch sind sie schlechter ausgebildet und haben geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, was sich wiederum negativ auf ihre finanzielle Unabhängigkeit auswirkt.
Die finanzielle Last der Menstruation
Der Preis für Periodenprodukte ist weltweit ein gesellschaftliches Streitthema. Es kursieren verschiedene Schätzungen, wie viel Geld Menstruierende im Laufe ihres Lebens dafür ausgeben, sich während ihrer Periode angemessen hygienisch versorgen zu können. Eine Umfrage der Huffington Post in Großbritannien ergab einen Betrag von umgerechnet rund 21.000 € – eine unvorstellbare hohe Summe, die Menstruierende aufgrund von biologischen Gegebenheiten schultern müssen.
In Togo ist dies besonders relevant, erklärt uns Emily, denn während eine deutsche Frau nur 0,08% ihres Gehalts für Periodenprodukte ausgebe, seien es für eine togolesische Frau ganze 2,8%. Einige Länder wie Kenia, Irland und Kanada haben deshalb den Steuersatz von Hygieneartikeln auf 0% reduziert. Schottland ist im Jahr 2020 das erste Land der Welt geworden, welches per Gesetz den kostenfreien Zugang zu Periodenartikeln für alle Bedürftigen etabliert hat.
Auch in Deutschland ist das Bewusstsein für diese strukturelle Ungerechtigkeit angekommen: Anfang 2020 wurde der Steuersatz für Periodenartikel von 19% auf 7% herabgesetzt. Und auch an den Hochschulen tut sich etwas: seit Mitte Februar gibt es z.B. auf 20 Toiletten der Universität Potsdam kostenlose Periodenartikel. Im Mittel kostet eine Packung Tampons allerdings immer noch zwischen 3 und 4 Euro, was gerade für Empfänger*innen von Sozialleistungen oder Wohnungslose eine existenzielle Abwägung bedeuten kann.
Stoffbindenproduktion und Aufklärungsarbeit gehen Hand in Hand
Die Stoffbinden von Lionne bestehen aus alten Baumwoll-T-Shirts, die in einem früheren Leben in den Regalen von Fast Fashion-Ketten hingen und nun in Westafrika den Markt überfluten. Diese werden säckeweise gekauft, dann in Form geschnitten, geschichtet und zusammengenäht. Die alltagstauglichen Binden können gewaschen und wiederverwendet werden. Neben der Produktion der Stoffbinden leistet Lionne auch Bildungsarbeit. Es werden rund 100 Beraterinnen ausgebildet, die die Binden verkaufen und über die Menstruation aufklären sollen. Die Fortbildungen hat das Team selbst konzipiert, denn: „Jede Frau sollte den weiblichen Zyklus zumindest ein bisschen verstehen.”
Momentan versucht Lionne die Bildungsarbeit und den Stoffbindenverkauf durch neue organisationale Strukturen fest in Togo zu verankern, um sich langfristig von Emily zu emanzipieren. Dazu sagt sie: „Ich fand es spannender, ein Projekt aufzubauen, bei dem es nicht nur darum geht, immer nur Geld reinzustecken. Mich hat es besonders gereizt, dass die Leute vor Ort damit selber Einkommen generieren können.” Lionne beschäftigt nun fünf Näherinnen, die die Stoffbinden herstellen.
White Saviorism: Zwischen Emanzipation und historischer Abhängigkeit
Als Emily 2016/17 ihren Freiwilligendienst in Kpalimé absolvierte, ahnte sie nicht, dass daraus ein so großes Projekt entstehen würde. Sie war eine von vielen jungen Europäer*innen, die nach dem Abitur ihren Freiwilligendienst in Ländern des Globalen Südens leisten. Doch seit einigen Jahren wird strukturelle Kritik an den entwicklungspolitischen Programmen laut. Der Vorwurf: White Saviorism. Organisationen wie No White Saviors kritisieren, dass sich privilegierte weiße Personen als Retter*innen darstellen, die in Ländern des Globalen Südens Hilfe leisten, während zugrundeliegende postkolonialistische Strukturen noch immer zu wenig reflektiert und damit teilweise reproduziert werden. Zugleich können historisch gewachsene Abhängigkeiten nicht einfach ignoriert werden, da viele Regionen stark auf internationale Freiwillige für die lokale Wirtschaft angewiesen sind.
Emily möchte deswegen kein pauschales Urteil über die Programme fällen und das System lieber von innen heraus verändern: „Es steht und fällt mit der Aufnahmeorganisation, den Projekten und der Person selbst.” Viele Projekte seien sinnfrei oder schlecht organisiert. Bei ihrem eigenen Freiwilligendienst habe sie zwei Stunden am Tag beim Radio gearbeitet und ansonsten sehr viel Doppelkopf gespielt. „Ich hab da nicht viel gebracht. Ich wollte gern etwas verändern, aber es gab nicht die Strukturen dafür.”
Zusammenarbeit auf Augenhöhe
Mittlerweile kann bei Lionne selbst ein Freiwilligendienst geleistet werden, den Emily besser gestalten möchte. Gemeinsam mit ihren Projektpartner*innen pflegt sie einen regelmäßigen Austausch auf Augenhöhe darüber, wie neokoloniale Strukturen durchbrochen werden können. Wichtig sei, dass die Ausgestaltung der Projekte zu einem großen Teil den togolesischen Partner*innen vor Ort überlassen werde, während aus Deutschland vor allem finanzielle Ressourcen kommen.
Ein weiterer Lösungsansatz sei die vermehrte Förderung von Süd-Nord-Einsätzen. Durch diese solle ein gleichberechtigter Austausch entstehen. Die strukturelle Ungleichheit für Freiwillige aus dem Globalen Süden ist damit für Emily jedoch noch lange nicht überwunden: Beispielsweise erhielten deutsche Freiwillige ein togolesisches Visum innerhalb weniger Wochen, während Togoles*innen für die Einreise nach Deutschland enorme finanzielle und bürokratische Hürden überwinden müssten. Emily und ihre Mitstreiter*innen möchten in Zukunft Sprachtandems anbieten, um Togoles*innen bei diesem Prozess zu unterstützen und den interkulturellen Austausch zu fördern.
Ein echtes Herzensprojekt
Geplant hat Emily ihren Werdegang so nicht. „Das war einfach so das Leben”, erzählt sie. Durch die Arbeit am Projekt entdeckte sie ihr Talent fürs Organisieren und Aufbauen von Strukturen. Die nötigen Fähigkeiten zum Projektmanagement und Sozialunternehmertum hat sie sich zum Großteil durch Webinare, Online-Recherchen und Learning by Doing selbst angeeignet – mit Erfolg: im November 2021 hat Emily mit dem Projekt den mit 5.000 Euro dotierten Engagementpreis der Studienstiftung des deutschen Volkes erhalten.
Heute arbeitet Emily neben ihrem Master zehn bis 20 Stunden in der Woche für Lionne. Nach und nach ist das Projekt dabei immer mehr mit ihrem Studium und Leben verwachsen. Ihr Masterseminar für Gesundheitspsychologie nutzt sie z.B., um einen Chatbot zu entwickeln, der per WhatsApp über Menstruation und Sexualität aufklärt und auch in Togo eingesetzt werden soll. Auch wenn sie langfristig mehr Aufgaben an ihre Mitarbeiter*innen übertragen und sich auch auf ihre eigene Karriere konzentrieren möchte – Lionne wird wohl ein Herzensprojekt für sie bleiben.
*Wir benutzen den Begriff „Menstruierende (Menschen)” als inklusive Bezeichnung aller Personen, die biologisch bedingt eine Periode bekommen. Der Begriff ist genderneutral und umfasst sowohl Menschen, die sich als Frauen identifizieren, als auch Menschen, die sich einem anderen Geschlecht zugehörig fühlen und menstruieren. Eine umfassende Erklärung findet ihr z.B. hier.
Ihr wollt euch gegen Periodenarmut in Togo einsetzen? Lionne freut sich über Mitstreiter*innen in den unterschiedlichsten Bereichen: Fundraising, Projektmanagement, Webdesign, Social Media, Buchhaltung uvm. Auch Praktika in Togo sind grundsätzlich möglich. Meldet euch einfach bei emily.wilbrand@woezonloo.de oder über Instagram. Über folgenden Link könnt ihr außerdem für das Projekt spenden. Wer nicht spenden kann oder möchte, kann sich dort auch für den Newsletter anmelden.