Die anderen Bilder des Krieges

Wie fühlt es sich an, tagein, tagaus mit der Ungewissheit umzugehen, ob der eigene Sohn noch am Leben ist? Präsentiert in einem Kooperationsprojekt der FU, erzählt der Spielfilm Tera nach mittlerweile acht Jahren Krieg in der Ukraine vom Warten: auf eine Nachricht, auf bessere Zeiten, auf Frieden. Ella Rendtorff war im City Kino Wedding dabei.

Das City Kino Wedding lädt zur Diskussion ein. Bild: Ella Rendtorff

Hände greifen routiniert nach industriell gefertigten Baiser-Häubchen, um sie luftdicht in Plastiktüten zu verpacken. Ein Fließband rattert in Nahaufnahme durch das mit Handkamera aufgenommene Bild, das Stampfen der Maschinen dröhnt durch den Kinosaal. Man folgt mit den Augen monotonen Bewegungsabläufen in Echtzeit, die das City Kino im Berliner Wedding in Fabrikatmosphäre hüllen. Tera – so der Name des ukrainischen Spielfilms, der an diesem Abend, dem 18. Mai 2022, im Rahmen der dreiteiligen Filmreihe 8 Years of War in Ukraine: Voices of Ukrainian Filmmakers gezeigt wird. Die Kooperation zwischen der Mediothek des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin und dem Ukrainian Film Festival Berlin vereint verschiedene filmische Perspektiven auf den seit mittlerweile acht Jahren andauernden Krieg in der Ukraine. 

„A film about fear“  

Tera, benannt nach einer Süßwarenfabrik in der ukrainischen Stadt Ternopil, bildet den Abschluss dieser Kino-Reihe. Als „a film about fear“ beschreibt Regisseur und Drehbuchautor Nikon Romanchenko sein Kinodebüt im Vorspann. Bereits im Jahr 2018 erschienen, verliert der auf den Kurzfilm Unavailable aufbauende Langfilm keineswegs an Aktualität, sondern gewinnt in Anbetracht der russischen Invasion neue Brisanz. Dass es um den Krieg geht, lässt Romanchenko die Zuschauer*innen allerdings nur erahnen, denn der Film spielt sich gewissermaßen im Schatten der Gewalt ab und liefert subtile Bilder, die Ungewissheit und Angst transportieren. 

Im Zentrum der Handlung steht das Gefühl der Ohnmacht, das die langjährige Fabrikarbeiterin Lyuba verspürt, während sie vergeblich auf ein Lebenszeichen ihres an der ostukrainischen Front kämpfenden Sohnes wartet. Verzweifelt und hoffnungsvoll zugleich macht sich die Mutter auf die Suche nach dem verlorenen Sohn, die sich dann wiederum im Warten verläuft. Sinnbildlich für die Leerstellen, die die Angst um den Angehörigen hinterlässt, wird der Film immer wieder von schwarzen Sequenzen unterbrochen. Zu sehen ist in diesen kurzen Momenten des Stillstandes nichts, zu hören nur die automatische Stimme der Mailbox des Vermissten. 

Die Anwesenheit des Krieges wird in Tera auf verschiedenen Ebenen durch Abwesenheit visualisiert: der fehlende Sohn, das lähmende Gefühl des Wartens, die schweigende Mutter. Es sind nicht die Figuren, sondern vor allem die Bilder, die in Romanchenkos Film sprechen. Bilder der inneren sowie äußeren Zerstörung und Verlassenheit, stumme Ruinen eines unsichtbaren Krieges. In Close-ups zeigt Tera Ausschnitte aus einer ukrainischen Lebensrealität, die zerrissen ist zwischen dem gleichförmigen Fabrikalltag, der auch in Kriegszeiten weitergeht, und der zermürbenden Angst, einen geliebten Menschen womöglich nie wiederzusehen. 

Metaphern statt Blutvergießen 

Nach dem Abspann bietet eine kurze Talk-Runde im Kinosaal Raum für Reflexionen, Hintergründe und offen gebliebene Fragen zum Film. Geleitet wird das Gespräch von der an der FU lehrenden Literaturwissenschaftlerin Susanne Strätling, zu Gast ist Filmkritikerin und Autorin Anna Mielikova sowie der im Forschungskolleg Europäische Zeiten tätige Oleksii Isakov. Romanchenko zeige in seinem Film „die anderen Bilder des Krieges“ und produziere durch seine subtile Herangehensweise „Stellvertreterbilder“ des Schreckens, so formuliert es Susanne Strätling.  Der Regisseur habe bewusst auf die direkte Darstellung von Gewalt und Tod verzichtet und sich stattdessen für eine metaphorische, weniger brutale Bildsprache entschieden, berichtet Anna Mielikova. Dadurch solle vermieden werden, dass „der Krieg zur Hauptfigur wird“, ergänzt Oleksii Isakov. 

Mehr Realität als Fiktion? 

Der Film stelle durch die zahlreichen Aufnahmen mit Teleobjektiv unmittelbare Nähe zur Realität abseits der Kriegsfront her und bewege sich so an der Grenze zum Dokumentarischen, darüber ist sich die Gesprächsrunde einig. Im ständigen Wechsel zwischen sachlicher Darstellung des Fabrikalltags und Spielfilm-Handlung entziehe sich der Film einer eindeutigen Genre-Zuordnung. Susanne Strätling spricht hier von einer „Hybridästhetik“. Indem Tera Einblicke in das alltägliche Leben einer von Krieg und Gewalt gezeichneten Gesellschaft gibt, spiegele der Film die Tendenz des jungen ukrainischen Gegenwartskinos wider, Spielfilme so authentisch wie möglich zu drehen. Diese filmische Entwicklung stehe in engem Zusammenhang mit dem ukrainischen Unabhängigkeitsprozess, erklärt Anna Mielikova. Nach jahrelanger Unterdrückung ginge es darum, verborgenes Leid sichtbar zu machen und medial unterrepräsentierte, andere Geschichten des Krieges auf die Leinwand zu bringen.   


Wer sich für Romanchenkos Arbeit und ukrainisches Gegenwartskino interessiert, wird auch nach Ende der Veranstaltungsreihe online fündig. Der Film Tera ist zwar (noch) nicht in voller Länge abrufbar, den Vorgänger-Kurzfilm Unavailable findet man dafür auf der ukrainischen Streamingplattform Takflix 

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