Nur eine Rampe reicht nicht

Alle wollen barrierefrei sein. Doch wer kann wirklich ungehindert am Studienalltag teilnehmen? Ein Blick auf die FU in Sachen Inklusion und Teilhabe. Von Julia Schmit.

Der Aufzug an der Haltestelle Dahlem-Dorf war monatelang außer Betrieb. Illustration: Malin Krahn.

Ein typischer Dienstag um 09:54 Uhr an der Haltestelle Dahlem-Dorf: Eine große Traube von Studis wird von den gelben Waggons der U-Bahn auf den Bahnsteig gespuckt und bewegt sich stromartig auf die Treppen zu. Studierende, die in ihrer körperlichen Mobilität eingeschränkt sind, kommen hier aktuell nicht weiter, denn der Aufzug funktioniert nicht. Ein schmuckloses, laminiertes Schild informiert darüber, dass er „aufgrund von Modernisierungsmaßnahmen“ von Februar bis Juli außer Betrieb sei. „Für mögliche Beeinträchtigungen bitten wir um Ihr Verständnis“. Aktuellen Zahlen zufolge sind etwa 15 Prozent der Bachelor-Studierenden an der FU von einer Behinderung oder chronischen Krankheit betroffen. Ein kaputter Fahrstuhl ist nur eines der Probleme, die ihnen im Studienalltag begegnen. Welche weiteren Probleme gibt es und wie steht es um die Barrierefreiheit an der FU? 

„Eine hundertprozentige Barrierefreiheit auf dem Campus zu erreichen, ist eine große Herausforderung. Aus unserer Sicht besteht hier noch deutlicher Optimierungsbedarf“, sagt Katrin Fischer von der Beratungsstelle für Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen. Gerade die alten Villen, in denen sich viele Institutionen der Universität befinden, seien für Menschen im Rollstuhl nicht zugänglich. Aber auch Bodenleitsysteme und Beschilderungen für blinde und sehbehinderte Menschen gebe es an der FU derzeit nicht. Andere Hochschulen seien in Sachen Zugänglichkeit schon weiter, so Fischer, zum Beispiel die Universität Münster oder die TU Dresden. Letztere verfügt unter anderem über Raumbeschilderung in Brailleschrift sowie Onlinevideos in Gebärdensprache. 

Die Beratungsstelle der FU hilft Studierenden mit Behinderungen bei Fragen rund um die Wahl des Studienfachs, dem Härtefallantrag bei der Studienbewerbung sowie dem Nachteilsausgleich für Prüfungen. Der Nachteilsausgleich soll Chancengleichheit gewährleisten und kann sowohl eine Verlängerung der Frist für eine Hausarbeit als auch die Nutzung von Hilfsmitteln bedeuten.

Besonders schwierig sei es an der Universität für Studierende mit unsichtbaren Behinderungen wie ADHS oder psychischen Erkrankungen, erklärt Fischer. Angst vor Ablehnung und Stigmatisierung erschwerten die Kontakte zu Kommiliton*innen, Lehrenden und Mitarbeitenden zusätzlich. Auch hier unterstütze die Beratungsstelle mit Angeboten, um existierende Barrieren abzubauen. An der FU gibt es außerdem eine*n Beauftragte*n für Studierende mit Behinderungen, die*der in den Gremien der Hochschule für ihre Belange eintritt. Momentan ist das Olaf Muthorst, Professor im Fachbereich Rechtswissenschaft. 

„Ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen“ muss laut UN-Behindertenrechtskonvention der Zugang zu Hochschulbildung für Menschen mit Behinderung sein. Dafür müssen angemessene Vorkehrungen getroffen werden. Dies gilt sowohl für sichtbare Behinderungen wie eine Querschnittslähmung, bei der man auf den Rollstuhl angewiesen ist, als auch für nicht-sichtbare Behinderungen, also neurodiverse Beeinträchtigungen wie Legasthenie oder Angststörungen.

Die Herausforderungen auf dem Campus sind vielfältig. Eine Studie des Deutschen Studentenwerks von 2018 hat gezeigt: vor allem der Bedarf nach Ruhe- und Rückzugsräumen ist groß. Gerade für Studierende mit chronischen Schmerzen oder Konzentrationsschwierigkeiten ist die Möglichkeit, sich im hektischen Alltag zurückziehen und durchatmen zu können, enorm wichtig. In der gesamten Rost- und Silberlaube gibt es gerade mal einen einzigen Ruheraum. „Wir arbeiten daran, dass in dieser Richtung mehr passiert. Aber diese Prozesse brauchen immer ihre Zeit“, so Fischer. Da die Beratungsstelle nur zwei Mitarbeiter*innen habe, müssten diese ihre Prioritäten genauestens setzen. Studierende zu beraten, stehe da an erster Stelle. Auf Probleme wie den defekten Fahrstuhl an der U3-Haltestelle haben sie keinen Einfluss, das ist Sache der BVG.

Probleme mit dem Fahrstuhl in Dahlem-Dorf kennt auch Rikki*. In den ersten Semestern sei sie deshalb ständig zu spät gekommen. Rikki ist 24 Jahre alt und hat bis zu Beginn der Pandemie Psychologie an der FU studiert. Sie hat Muskeldystrophie – eine Erbkrankheit, die dazu führt, dass ihre Muskeln stetig schwächer werden. Deswegen bewegt sie sich mithilfe eines elektrischen Rollstuhls fort und hat rund um die Uhr eine*n Assistent*in bei sich, der*die sie im Alltag unterstützt: „Ich bin selbstbestimmt, aber selbstständig sein geht körperlich nicht.“ 

Was materielle Barrierefreiheit, also die physische Zugänglichkeit angeht, habe sie an der FU gute Erfahrungen gemacht, erzählt Rikki. So habe sie zum Beispiel zu Beginn jedes Semesters über den Behindertenbeauftragten abklären können, dass sie in ihren Seminarräumen einen erhöhten Tisch zur Verfügung gestellt bekommt, unter den die Armlehne ihres Rollstuhls passt. Die rein materielle Barrierefreiheit reiche aber bei Weitem nicht aus, so Rikki. „Es wird gerade erst ans Tageslicht gebracht, wie viel emotionale Arbeit es bedeutet, immer auf diese Weise abhängig von Personen zu sein. Die Schnelllebigkeit des Alltags an einer riesigen Uni lässt für Gespräche darüber keinen Raum.“ 

„Die FU und andere Hochschulen sind jetzt vielleicht barriereärmer, aber in den Köpfen noch nicht.“

Studentin Rikki

Im Jahr 2016 wurde in Deutschland das Bundesteilhabegesetz (BTHG) verabschiedet. Das Gesetzespaket soll umfangreiche Änderungen anstoßen, um die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen zu verbessern und sich weiter in die Richtung einer inklusiven Gesellschaft mit mehr Selbstbestimmung zu bewegen. Auch zur Teilhabe an Hochschulbildung können dank dem BTHG mehr Leistungen beantragt werden, zum Beispiel Hilfen bei der Absolvierung von Praktika. Doch es bleibe noch viel zu tun – davon ist Rikki überzeugt. 

Aufgrund ihrer Erkrankung konnte sie manchmal über Wochen nicht an die Uni und den Stoff nur schwer nacharbeiten. Der Leistungsdruck im Psychologiestudium habe ihr sehr zu schaffen gemacht. Lehrende hätten zu Beginn oft betont, dass nicht alle das Studium schaffen würden. „Ich glaube, das ist für alle schlimm, aber Menschen, die schon ihr Leben lang kämpfen, um überhaupt auf 80 Prozent zu funktionieren, fragen sich schon: Wie soll ich 150 Prozent jemals schaffen?“ Während andere eifrig ihre Zukunft planten, war sie jeden Tag aufs Neue herausgefordert. „Zu Beginn habe ich mir nicht den Luxus gegönnt, auch nur einen Schritt weiter als in der Gegenwart zu sein. Denn dann habe ich sofort das Gefühl gehabt, das wäre ein Luftschloss, das ich mir aufbaue.“

Kontakte mit Kommiliton*innen zu knüpfen sei ihr schwer gefallen, allein wegen der Wege, die sie in ihrem Rollstuhl zurücklegen musste: „Bis ich über die Rampe aus dem Hörsaal war, waren die anderen schon längst in der Mensa.“ Wie alle Erstis war sie überwältigt vom neuen Lebensalltag. „Erst seit Kurzem habe ich das Gefühl, richtig angekommen zu sein.“

Inzwischen studiert Rikki Soziale Arbeit an einer anderen Hochschule. Sie traut sich jetzt auch, an die Zukunft zu denken. Ihr Studium sei immer erst dritte Priorität nach ihrer eigenen Zufriedenheit und ihrem Assistenz-Team. Dass sie deswegen vielleicht länger für den Abschluss braucht, sei für sie in Ordnung. Ihr Ziel sei es, den Bachelor abzuschließen und sich danach weiterzubilden: Sie will Therapeutin werden.

Ihr habe es sehr geholfen, sich mit anderen Frauen mit Behinderung auszutauschen, zum Beispiel bei einem Workshop des studierendenWERKS Berlin zu Übergriffigkeiten und Sexismus. Hier wurde gemeinsam geübt, sich mit klaren Worten und Körpersprache gegen Diskriminierungen im Alltag – wie beleidigende Kommentare in der U-Bahn – zu wehren. So blicke sie mittlerweile mit einer intersektionalen Perspektive auf ihre Erfahrungen mit Diskriminierung. Im Austausch mit anderen habe sie auch den Mut gefunden, ihre Bedürfnisse klarer zu formulieren: „Universitäten brüsten sich damit, Orte der Vielfalt zu sein. Wir dürfen Sachen einfordern; wir sollten das auch tun.“

*Anm. d. Red.: Der Name wurde von der Redaktion geändert.


Wir haben uns dazu entschieden in unserem Heft Begrifflichkeiten zu verwenden, die möglichst antidiskriminierend sind. Falls dir ein Begriff oder eine Schreibweise nicht bekannt sein sollte, kannst du die Bedeutung hier nachlesen.

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