Nachts die Welt erobern?

Die Traumwelt – ein Ort, an dem die Grenzen der Realität nicht mehr greifen und alles möglich ist. Träume können uns quälen, entspannen, Angst machen oder sogar wünschen lassen, nicht mehr aufzuwachen, weil’s so schön ist. Aber was, wenn wir all das steuern können? 

In Träumen werden physikalische Gesetze außer Kraft gesetzt – Beim luziden Träumen kann das für jegliche Abenteuer genutzt werden. Illustration: Leona Ley.

Triggerwarnung: Erwähnung von Suizid

Manchmal fliegt sie durch ihre alte Gegend in Hamburg. Erst durch die Wohnung und dann draußen zwischen den Fassaden entlang, die sie noch aus ihrer Kindheit kennt. Wenn sie fliegt, fühlt sich das an, als bewege sie sich durch Wasser: In langsamen Zügen schiebt sie sich voran und passiert dabei die roten und braunen Gemäuer der Altbauwohnungen. FU-Studentin Hannah* kann luzid träumen. Das bedeutet, sie ist sich während ihrer Träume oft bewusst, dass sie träumt. Luzides Träumen wird auch als Klarträumen bezeichnet. Dabei haben die Schlafenden die Möglichkeit zu steuern, was sie träumen. Und Hannah fliegt am liebsten.

Luzides Träumen lernen

„Abenteuer erleben, fliegen, unter Wasser atmen, alles essen, worauf man Lust hat, oder auch Rendezvous mit den Lieblingsstars – das sind so die typischen Motive der Kursteilnehmenden“, sagt Sarah Alles, Workshopleiterin bei Die Klarträumer. Gemeinsam mit Geschäftsführer Daniel Wünsch hat sie 2019 das Unternehmen gegründet, das Coaching-Programme für luzides Träumen in Berlin anbietet. Als Duo leiten sie diverse Workshops und Online-Kurse, um das Klarträumen zu lehren.

Laut Daniel ist luzides Träumen „die modernste Form der Persönlichkeitsentwicklung.“ Denn neben spaßigen Aktivitäten könne man das Klarträumen auch für Nützliches einsetzen. Es sei möglich, sich selbst besser kennenzulernen, im Traum motorische Bewegungsabläufe zu trainieren und sogar Problemlösungen zu finden.

Die Kurse und Workshops behandeln verschiedene Themen: vom Unterbewusstsein über Yoga Nidra (Anm. d. Red.: Yoga-Technik, bei der durch Entspannungstechniken ein Zustand zwischen Schlaf und Wachsein erreicht werden soll) bis zur Traumdeutung. Außerdem werden Achtsamkeits- und Meditationsübungen durchgeführt. Die Basis bildet aber allen voran die Auseinandersetzung mit dem Schlaf. Im nächsten Schritt gehe es dann um das praktische Erlernen des luziden Träumens. Dafür würden im Coaching zwei Methoden vermittelt: das wach- und das trauminduzierte Klarträumen. Bei der wach-induzierten Methode gehe es darum, während des Einschlafens mental wach zu bleiben. „Der Körper schläft ein und das Bewusstsein bleibt wach – du erlebst den Prozess des Einschlafens bewusst mit“, erläutert Sarah. Bei der trauminduzierten Methode hingegen würde den Schlafenden mittels bestimmter Übungen im Traum bewusst, dass sie gerade träumen. Sie erklärt, die meisten Teilnehmenden würden das luzide Träumen durch diese Methode erlernen. 

Wach- vs. Traumwelt

Ein bedeutender Unterschied zwischen Traumwelt und ‚Wachwelt‘ sei, so Daniel, dass physikalische Gesetze im Traum nicht funktionierten. Das könne genutzt werden, um zu überprüfen, ob man sich gerade in einem Traum befände. Diesen Trick nutzt auch Hannah – allerdings, ohne dass sie es jemals bewusst erlernt hätte. Plötzlich konnte sie sich im Traum fragen: Ist das die Realität oder träume ich? Sie überprüfe dann, ob die Schwerkraft noch wirkt oder ob sie vom Boden abheben – also fliegen – kann. Ein weiterer Realitätscheck sei, mit dem Zeigefinger auf die eigene Handfläche zu tippen. In Träumen könne man den Finger durch die Hand hindurchbewegen, da die Grenzen des eigenen Körpers fluide seien.

Wie oft Hannah klarträumt, kann sie nicht genau sagen, denn meist seien ihr nur bestimmte Phasen ihrer Träume bewusst. Sie schätzt aber, dass circa 30 bis 40 Prozent ihrer Träume luzide Abschnitte enthalten. Das sei auch der Grund, warum sie nicht komplett frei bestimmen könne, was in ihren Klarträumen passiert – häufig bleibe sie in der Umgebung, die sich ihr Traum-Ich bereits ausgedacht hat. Andererseits habe sie die Fähigkeit, sich sehr detailliert Dinge vorzustellen:

„Ich kann in meinen Träumen Bücher lesen, die ich mir anscheinend ausdenke, während ich träume.“

Bewusste (Alb-)Träume 

Wie lange es für die Kursteilnehmenden bei den Klarträumern dauere, luzides Träumen zu beherrschen, könne pauschal nicht gesagt werden. „Das kann zwischen einem Tag und zwei Jahren variieren“, so Daniel. Wer das luzide Träumen zu einer Priorität in seinem Leben mache und wirklich dranbleibe, könne es wahrscheinlich in ein bis zwei Monaten schaffen. „Es ist wirklich ein Training, wie bei einem Muskel“, erklärt Sarah.

Das luzide Träumen wird auch als Therapiemethode eingesetzt, um Albträume zu bekämpfen. Workshopleiter Daniel hat diese Erfahrung selbst gemacht: „Ich habe durch luzides Träumen einen Albtraum aufgelöst, den ich 27 Jahre lang hatte.“

Für Hannah ist das luzide Träumen allerdings selbst der Albtraum. Als das Klarträumen bei ihr anfing, startete sie gerade mit dem Studium. Eine Zeit, in der viele belastende Faktoren in ihr Leben kamen: Sie litt unter den Beziehungsproblemen ihrer Eltern, ihrer Mutter ging es mental sehr schlecht und Hannah hatte mit Einsamkeit und Panikattacken zu kämpfen. Mit Belastung habe das luzide Träumen bei ihr auch noch heute zu tun: „Luzide Träume werden bei mir wie Albträume ausgelöst – wenn ich viel Stress habe oder wenn es mir mental nicht gut geht.“

Die Flucht aus der Traumwelt

Warum sie so empfindet, hat verschiedene Gründe. Zum einen hat sie in ihren Träumen oft Angst, nicht mehr aufwachen zu können. Dann frage sich Hannah häufig: „Was ist, wenn mein Wecker schon geklingelt hat? Wer findet mich? Weckt mich irgendwann jemand?“ Sie versuche sich dann selbst zum Aufwachen zu bringen. „Eine mehr oder weniger wirkungsvolle Methode ist es, sich im Traum umzubringen. Ich habe mich im Traum schon von allem runtergestürzt.“ Doch selbst wenn Hannah wach sei, sei der Spuk nicht vorbei. Oft leide sie unter Schlafparalysen. Das bedeutet: Sie ist zwar mental wach, ihr Körper ist aber noch im Ruhezustand. An sich ist dieses Phänomen etwas ganz Natürliches: Während der REM-Phase (Anm. d. Red.: rapid eye movement; Schlafphase, in der sich die Augen schnell hin- und herbewegen) ist der Körper gelähmt. Das schützt uns davor, unkontrollierte Bewegungen, die in unserem Traum vorkommen, in der Wirklichkeit auszuführen. Normalerweise erwacht man nicht aus der REM-Phase. Geschieht es dennoch, kann es einen Moment dauern, bis der Körper wieder beweglich ist – und das macht natürlich Angst.

Nach luziden Träumen fühlt sich Hannah deshalb meist ausgelaugt. Manchmal ist sie sich dann auch nicht sicher, ob sie wirklich aufgewacht ist oder noch träumt. Diese Schwierigkeit der Unterscheidung betonen auch Die Klarträumer, sehen sie allerdings weniger problematisch. Coach Daniel erklärt: „Auch die Traumwelt ist eine Realität, aber mit anderen Regeln, mit anderen Gesetzen. Und deswegen reden wir in unseren Kursen immer von der ‚Wachwelt‘ und der Traumwelt.“

Bin ich wach oder träume ich?

Für Hannah fühlen sich manchmal sowohl Traum als auch Realität nicht echt an. „Das macht mir Angst, weil es mir oft schwerfällt, meine Träume und meine tatsächliche Welt auseinanderzuhalten.“ Zusätzlich habe sie auch Bedenken, in die Traumwelt abzurutschen: „In Träumen fühlt sich alles emotional intensiver an. Ich habe die Sorge, meine Träume als das einzige Intensive in meinem Leben wahrzunehmen.“ Die Frage, was nun die Realität ist, ist Hannahs Angstthema Nummer eins. Ob sich diese Angst durch das luzide Träumen entwickelt hat oder andersherum, weiß sie nicht. Fest steht aber: „Filme wie Inception kann ich deshalb nicht gucken, das geht mir emotional zu nah.“ Auf die Frage, ob sie schon etwas gegen das luzide Träumen unternommen hätte, runzelt sie die Stirn. Sie habe das Gefühl, die ganze Welt um sie herum möchte herausfinden, wie man das Klarträumen erlernt, aber nicht, wie man es loswird. 

Die Klarträumer betonen, dass die Motivation und Herangehensweise wichtige Faktoren des luziden Träumens bilden. Auch Hannah sieht das so: „Es ist etwas anderes, wenn man mit dem Willen rangeht, das können zu wollen.“ Träume kontrollieren oder nachts abschalten? Fraglich bleibt, ob es wirklich notwendig ist, die eigenen Gedanken auch im Schlaf zu beherrschen. Schließlich ist der Schlaf dazu da, um sich auszuruhen und nicht um produktiv zu sein. Durch Bewusstsein in die Traumwelt einzugreifen, birgt Risiken, eröffnet aber zugleich endlose Möglichkeiten.

*Anm. d. Red.: Der Name wurde von der Redaktion geändert.


Wir haben uns dazu entschieden in unserem Heft Begrifflichkeiten zu verwenden, die möglichst antidiskriminierend sind. Falls dir ein Begriff oder eine Schreibweise nicht bekannt sein sollte, kannst du die Bedeutung hier nachlesen.

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