Ein Wirrwarr der Freiheiten

Es ist ein Vortrag über Geschlechtlichkeit, an dem sich die Kontroverse entzündet. Sie weist auf eine fundamentale Konfliktlinie unserer freiheitlichen Gesellschaft. Ein Essay von Leonard Wunderlich.

Menschen der LGBTQIA+ Community sind häufig noch immer Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, anstelle ein vollwertiger Teil dieser zu sein. Fotos: unsplash, Montage: Leonard Wunderlich

Zur Langen Nacht der Wissenschaft war der Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht „Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht, Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“ an der Humboldt Universität Berlin (HU) angekündigt worden. Nur unwesentlich später stritt bis weit über Berlin hinaus schier die halbe Republik. Die Absage oder Verschiebung – schon dabei scheiden sich die Geister – war von der HU-Führung aufgrund von Sicherheitsbedenken bekanntgegeben worden, nachdem mehrere studentische Gruppen Proteste angekündigt hatten, wie HU-Interimspräsident Peter Frensch damals berichtete.

Ein Aufschrei schallt durch das Land und verbindet sich mit einem alten Vorwurf: Eine Universität, ein Ort der Wissenschaft verbiete den Auftritt einer Doktorandin, gebe damit dem studentischen Versuch nach, unliebsame Perspektiven zum Schweigen zu bringen und unterminiere so die Wissenschafts- und Meinungsfreiheit. Die andere Fraktion hingegen fordert die Nichtdiskriminierung von Menschen non-binärer Geschlechtsidentität und stellt die wissenschaftlichen Absichten des Vortrags infrage. Eine Seite sieht die demokratischen Rechte der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in Gefahr, die andere verweist auf Minoritäten- und Nichtdiskriminierungsrechte. Klären wir das doch mal auf.

Demokratie versus Rechtsstaat

Ein kurzer Exkurs in Demokratietheorie und Systemlehre vorab: Demokratie und Rechtsstaat werden im öffentlich-gesellschaftlichen Diskurs häufig synonym verwendet. Oder man ist der Meinung, dass eine bedinge zwangsläufig das andere und umgekehrt. Tatsächlich aber stehen beide – unter Umständen – im diametralen Gegensatz zueinander und fordern in einem institutionellen Konflikt Bedeutung ein. Während Demokratie die Herrschaft des „Volkes“ postuliert und damit allgemeine, unteilbare Bürger*innenrechte festsetzt, steht die Ausübung dieser kollektiven Rechte womöglich im Widerspruch mit den verfassungsmäßig garantierten Sicherheiten einzelner Individuen oder Minoritäten. Der demokratische Wille einer Mehrheitsgesellschaft steht den Individualrechten konflikthaft gegenüber. Und gerade an dieser Stelle ist der Rechtsstaat Schutzpatron des Einzelnen, der also das Individuum gegebenenfalls gegen die demokratische Mehrheit schützt. Demokratie und Rechtsstaat, Mehrheit und Minorität stehen im Konflikt. So weit, so verwirrend, und daher zurück zum Vortrag.

Demokratie: Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit

An dessen (vermeintlicher) Absage durch die HU-Leitung entzündet sich Entrüstung über vorgebliche institutionalisierte sogenannte „Cancel-Culture“, und Rufe werden laut, die fordern: „Man wird ja wohl noch eine Meinung haben und sagen dürfen.“ Doch Meinungs(un)freiheit kann gar nicht Gegenstand der Debatte sein. Es geht nicht um etwaige Meinungsäußerungen Vollbrechts, deren Zulässigkeit oder deren mögliche Unterbindung, sondern um die Frage, ob ihr Vortrag wissenschaftlichen Anforderungen genügt, oder ob sie ihren Stand als Wissenschaftlerin dazu nutzt, eine Meinung als biologisches Faktum zu setzen. Denn qua des institutionellen Rahmens des Vortrags – der Langen Nacht der Wissenschaft als (populär-)wissenschaftliche Veranstaltung – geht es um die Präsentation und Diskussion wissenschaftlicher Erkenntnisse, nicht um die persönliche Meinung einer Doktorandin, sodass vom Vorwurf der unterbundenen Meinungsäußerung keine Rede sein kann. 

Dann ist da noch die Frage der Wissenschaftsfreiheit, und diese ist – zugegeben – etwas knifflig. Es ist im Falle Vollbrechts eine biologische Frage. Der Arbeitskreis kritischer Jurist*innen warf ihr in einer Pressemitteilung Unwissenschaftlichkeit vor. In der dem (später nachgeholten) Vortrag folgenden Podiumsdiskussion wird diese Frage von Rüdiger Krahe, Biologieprofessor  und Doktorvater Vollbrechts, und Kerstin Palm, Biologin und Professorin für Genderstudies, wieder aufgenommen, und die nicht unkontroverse Auseinandersetzung beider Professor*innen verschafft Klarheit: Die Theorie der Zweigeschlechtlichkeit, die Vollbrecht vertritt, ist in der Biologie eine wissenschaftliche, disziplinär anerkannte Position. Aber sie ist nur EINE Position. Krahe und Palm arbeiten heraus, dass andere Wissenschaftler*innen der Biologie andere Erkenntnisse erlangen. Demnach sei Geschlechtlichkeit vielmehr als Kontinuum zu begreifen. Und hier liegt das Problem.

Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit eines Beitrags entscheidet sich auch an dessen Kontextbewusstsein und Einordnung im disziplinären Diskurs. Inhaltliche Gegendarstellungen widerstrebender Positionen und deren Diskussion machen die eigene Position nicht nur glaubhafter, sondern sind auch Ausdruck einer kritischen, sich selbst reflektierenden und ständig hinterfragenden Wissenschaft, deren Ergebnisse nicht deterministisch einer möglicherweise abweichenden Wirklichkeit aufgedrückt werden. Es sind dieser unablässig kritische Geist, das ständige Hinterfragen eigener Prämissen und der Diskurs der Wissenschaftsgemeinschaft, die die Wissenschaft vorantreiben. Es ist die unablässige Suche nach Erkenntnissen, die der Wahrheit möglichst nahekommen. Das ist nicht die Position eines radikalen Relativismus, sondern die Kritik, die Vollbrecht und ihre Aussagen rund um ihren Vortrag von zahlreichen Wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen, Student*innen und Professor*innen erfahren.

…gegen Rechtsstaat: Minoritätenschutz

Nach Artikel 3 Absatz 3 unseres Grundgesetzes darf niemand qua “seines[*ihres] Geschlechts […] benachteiligt oder bevorzugt werden“. Es handelt sich hierbei um ein Recht jedes Individuums, das dieses sowohl gegen den Staat als auch gegen alle anderen durchzusetzen berechtigt ist. Unter der Prämisse, dass Sprache und die Weise ihrer Verwendung, Realität konstituieren und daher Diskriminierung und Intoleranz mindestens fördern können, erscheint ein Vortrag potenziell im Geltungsbereich individueller Antidiskriminierungsrechte zu liegen – ungeachtet dessen, dass der betreffende Vortrag an einer staatlichen, aus Steuermitteln finanzierten Hochschule stattfinden sollte. Eine Minorität von Menschen non-binärer Geschlechtsidentität kann sich also grundsätzlich, wird sie diskriminiert, auf ihr verfassungsmäßiges Recht auf Nichtdiskriminierung berufen und es – ungeachtet der Größe der entgegenstehenden Gruppe – sogar gegen eine etwaige Mehrheit durchsetzen. 

Ungeachtet Vollbrechts Vortrag im Speziellen scheint also das individuelle Recht auf Nichtdiskriminierung potenziell dem demokratischen, das heißt dem Recht der Mehrheit auf freie Meinungsäußerung und Wissenschaftsfreiheit entgegen zu stehen. Wie löst man diesen Konflikt jeweils legitimer und fundamentaler Rechte auf? Grundsätzlich gar nicht – es bedarf einer Abwägung des Einzelfalls.

Und nun?

Im Fall des Vortrags Vollbrechts fällt diese Abwägung leicht. Dem grundgesetzlich garantierten Recht auf Nichtdiskriminierung einer Minorität von Menschen non-binärer Geschlechtsidentität steht ein Vortrag entgegen, dessen Verschieben – wie zuvor diskutiert – weder eine Einschränkung der Meinungsfreiheit bedeutet kann, da Meinungen nicht Gegenstand der Verhandlung sind, noch die Wissenschaftsfreiheit in Frage stellt, denn von Wissenschaftlichkeit kann aufgrund fehlender Reflexion und Kontextualisierung des Vorgetragenen keine Rede sein.

Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass fundamentale demokratische Rechte von den Verteidiger*innen Vollbrechts durch die Proklamation ihrer Verletzung dazu instrumentalisiert werden, die Rechte von Minoritäten und jedem*jeder Einzelnen zu beschneiden. Der Vortrag Vollbrechts ist kein Beispiel der Einschränkung von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, sondern er ist ein Beispiel des Ausspielens eigener Rechte gegen jene anderer zum Schaden strukturell diskriminierter Minoritäten.

Autor*in

Leonard Wunderlich

Hat den leisen Verdacht, dass Hochschulpolitik doch irgendwo nicht völlig unwichtig ist.

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