23 Dinge, aber weniger als gedacht

Kapitalismuskritik zugänglich zu machen verspricht „23 things they don’t tell you about capitalism” von Ha-Joon Chang. Ob dies gelungen ist, berichtet Larissa Schäfer in einer neuen Folge des Bücherbingos. 

Das beste Wirtschaftssystem, das die Menschheit je erfunden hat? Foto/Montage: FURIOS Wissenschaft.

In der S-Bahn sitzend fragte ein Kind neben mir seinen Opa, wieso Menschen auf der Straße leben. „Weil sie die Miete nicht bezahlen können.“, antwortete er. „Warum lässt man sie dann nicht einfach kostenlos wohnen?“, wunderte sich das Kind. Es ist für mich, 20 Jahre älter, genauso unverständlich, wieso manche sich ein warmes Dach über dem Kopf leisten können und andere aus ihrer Wohnung geworfen werden.

Trotzdem treibt die Frage nach mehr Gerechtigkeit und Veränderung unseres Wirtschaftssystems viele um. Oft wird dabei angenommen, dass es Expert*innenwissen braucht, um den Kapitalismus kritisieren zu können. Der Wirtschaftswissenschaftler Dr. Ha-Joong Chang möchte in seinem Buch „23 things they don’t tell you about capitalism“ mit dieser Annahme aufräumen und den Lesenden zu einer „active economic citizenship“  verhelfen.

Raus aus ökonomisch unwissender Passivität?

Bereits im Titel wird klar: Dr. Chang inszeniert sich auf meiner Seite, der Seite der Lesenden. Es gibt ein „Die“ und ein „Wir“. Mit dem fast schon verschwörungsmythisch klingenden „Die“ sind Wirtschaftsexpert*innen und Wirtschaftstheoretiker*innen gemeint, denen Chang vorwirft:: „95 per cent of economics is common sense made complicated.“ Selbst die restlichen fünf Prozent könnten recht einfach erklärt werden, behauptet er. Auch wenn ich das Konzept von „einem“ gesunden Menschenverstand schwierig und sehr normbehaftet finde, musste ich bei diesen Worten in der Einleitung auflachen.

In jedem der 23 Kapitel wird ein Aspekt des Neoliberalismus erklärt und kritisch betrachtet. Beispielsweise wird aufgezeigt, dass es einen freien Markt überhaupt nicht gebe. Ha-Joon Chang schreibt auch, dass US-amerikanische Manager*innen ungerechtfertigterweise weltweit am besten bezahlt werden – obwohl die Industrien dort nicht die weltweit hochrangigsten sind. Es geht ebenso darum, dass die Effizienz des Finanzmarktes nicht vergleichbar mit anderen Industrien ist, denn ein effizienter Finanzmarkt kann auch bedeuten, effizient in Schulden zu versinken. In nicht mit zu vielen Fachwörtern gespickter Sprache wird plausibel dargelegt, welche Schwachstellen die freie Marktwirtschaft hat. 

Meiner Meinung nach sind dies allerdings inhärente Mechanismen des kapitalistischen Systems, die sich leider nicht einfach so weg reformieren lassen. Immerhin ist nach Chang der Kapitalismus in Anbetracht fehlender Alternativen auch „still the best economic system that humanity has invented.“ Ich sehe nicht ganz, wie ich als Leserin wirklich eine aktive ökonomische Bürgerin werden kann, ohne auch mal über den Tellerrand des Kapitalismus hinausgeschaut zu haben.

Keine Systemkritik

Zum Schluss ruft Dr. Chang Bürger*innen dazu auf, sich nicht so sehr von Wirtschaftsexpert*innen einschüchtern zu lassen. Hier wird außer Acht gelassen, dass es nicht nur eine Individualverantwortung gibt, sondern Kapitalismus als System besteht. Für mich präsentiert er sich schließlich doch selbst als einer dieser Expert*innen, wenn auch die Hemmschwelle zu seinem Buch geringer gehalten wird als gegenüber eines dicken, theoretischen Fachbuchs.

Das tut Dr. Chang zwar auf zugängliche Art und Weise, aber ohne an den Säulen der kapitalistischen Profitlogik an sich zu rütteln. Wichtig ist nach Chang nur: „that you are willing to remove those rose-tinted glasses that neo-liberal ideologies like you to wear every day. The glasses make the world look simple and pretty.” An dieser Stelle wird die Zielgruppe des Buches sehr deutlich: Es geht dem Autor nicht um die, die in unserem Wirtschaftssystem am meisten leiden. Stattdessen richtet es sich an liberale, gut betuchte Menschen, die bisher noch keine großen Probleme am herrschenden System erkennen konnten.

Schade, dass sich ein weiterer Wirtschaftswissenschaftler in den Kanon vieler seiner Fachgenoss*innen einreiht: Die Kritik ist in mancherlei Hinsicht gut und richtig, greift dennoch bei Weitem nicht tief genug. So verbleibt sie in der starren, wieder unantastbaren Ordnung des Kapitalismus.

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