Eine „offene Wunde der Erde”

Das Dorf Lützerath soll dem Kohleabbau zum Opfer fallen. Tausende Klimaaktivist*innen protestieren gegen diesen Plan. Justus Könneker berichtet von seiner Reise an die Abrisskante.

Lützerath steht in jeder Hinsicht am Abgrund. Foto: Gabriella Gonçalves Pretelli.

Am Montag fängt es auch auf dem Campus der Freien Universität an. Vor der Mensa begrüßt uns ein „Lützi  Bleibt!“-Graffiti. Drinnen treffen wir Personen der Hochschulgruppe Klasse gegen Klasse für einen Teach-in zum Thema „Lützerath.“ Denn diese Woche reise ich mit Studierenden der FU zur Demonstration gegen die Ausweitung des Kohleabbaugebiets.

Zusammen fahren Lu, eine Studierende der FU, und ich Freitagnacht in einem der von Fridays for Future organisierten „Soli-Busse“ in Richtung Lützerath. Eigentlich sollte es nur einen geben, doch letztendlich sind es neun geworden. Unerwartet teilen wir die Fahrt mit kaum weniger als  tausend anderen, die sich auch aus Berlin auf den Weg machen. Im Bus herrscht eine Atmosphäre der gespannten Vorfreude. In der Schlange vor der Toilette werde ich gefragt, ob ich schon mal in Lützerath oder im Hambi war, ob ich schon mal ins Nichts der Kohlegrube gesehen habe. Auch die Telefonnummer des Ermittlungsausschusses wird mit uns geteilt. Die soll ich mir aufschreiben, falls ich von der Polizei mitgenommen werde. Wir vereinbaren, dass wir uns generell von der Polizei fernhalten wollen.

Im Camp angekommen, warten schon Zehntausende. Endlos viele Gesichter laufen an uns vorbei und doch scheint in dem Chaos eine Struktur zu sein. Gemüse wird fürs Abendessen geschnibbelt, die Frühstücksteller werden gespült, in den Toiletten werden Menstruationsprodukte nachgefüllt und die menschlichen Überbleibsel entsorgt. Im Camp treffen wir eine weitere Freundin von der FU. Hier gibt sie sich den Waldnamen ‚Waschbär’. Wir wollen uns später im Dorf wieder treffen. 

Lebendige Stimmen im toten Dorf

Später treffen wir uns vor der Dorfkirche, die seit ihrem Verkauf an die RWE AG leer steht. Von dort aus schließen wir uns der Demonstration an. Es ist ein sehr regnerischer und windiger Tag. Die Demonstrierenden schaffen es nicht, einen lauten und kontinuierlichen Gesang aufrechtzuerhalten. Lu meint, dass nicht mehr dieselbe Energie herrsche wie vor ein paar Jahren. Sie vermutet, dass „diese Leute das schon hundertmal gemacht haben”. Ich merke, dass ohne die Präsenz der Medien, die Rufe der Demonstrant*innen in dem leeren Dorf ungehört blieben. 

Im Camp sammeln sich Protestierende zum Frühstück. Foto: Gabriella Gonçalves Pretelli.

Das Geisterdorf ist ein lebendes Memorium für das, was uns am Ende der Demo erwartet. Da der Demozug sich nicht mehr bewegt, bringt uns mit vielen anderen die Neugier zur Abrisskante. Das Nichts erstreckt sich bis zum Horizont. ‚Waschbär’ nennt es eine „offene Wunde der Erde“. Ihre Größe lässt sich nur schwer beschreiben. Während wir das Loch anstarren, rauschen Hunderte von Polizisten an uns vorbei in Richtung Lützerath.

Demonstrierende versus Polizei: „Wir sind mehr!”

Im Chaos der rennenden Hundertschaften verlieren wir ‚Waschbär’. Die Menschenmasse drückt sich immer weiter rein nach Lützerath. Tagelanger Regen und die Schuhsohlen Zehntausender verwandeln das Ackerland vor Lützerath im Agincourt-Stil zu einem Schlachtfeld. Die Polizei hat seit der ersten Woche der Räumung einen Zaun um das Dorf hochgezogen. Auf dem Feld vor dem Zaun haben sie eine weitere Linie errichtet, an der Hunderte von Polizisten warten. Die Demonstrant*innen beginnen sich vor dieser ersten Polizeikette zu sammeln. Im Chaos der Massen verblasst die legale Grenze. Beim Versuch, nach Lützerath vorzudringen, eskaliert es: Rennende Hundertschaften drängen in die Menschenmasse. Eingeschüchtert halten Lu und ich Distanz. Plötzlich marschieren mehrere Kolonnen, die von einer vorderen Fahne angeleitet werden, von hinten rein. 

Nach einem dramatischen Durchbruch durch die erste Polizeikette traue ich mich, mir die Lage näher anzugucken. Verunsichert schaue ich mich um. Um mich herum stehen Menschen mit ihren Hunden und mit ihren Kindern. In derselben Masse finde ich blutverschmierte Bandagen, Menschen mit Kopfverletzungen und Menschen, die sich heulend die Augen reiben. In einer nahegelegenen Straße kann ich mehrere Krankenwagen sehen, die versuchen, zu den Verwundeten vorzudringen. Immer wieder hören wir die Drohung der Polizei, den Wasserwerfer einzusetzen. 

Beim Versuch der Protestierenden, nach Lützerath vorzustoßen, kommt es zu einer heftigen Konfrontation mit der Polizei. Foto: Gabriella Gonçalves Pretelli.

Doch der Durchbruch durch die erste Polizeikette hat die Menschen, die vorher verunsichert hinten standen, nach vorne gebracht. Immer größere Teile der ursprünglichen Demonstration setzen sich in Bewegung. Immer wieder schreien die Massen: „Wir sind mehr!“. Es sind so viele, dass sich die Polizei zum Zaun zurückzieht. In der Ferne, im Wald von Lützi, sieht man die letzten Besetzer*innen auf ihren Monopods und in den Baumhäusern. 

Mit der Dämmerung laufen wir erschöpft ins Camp zurück. Unsere Gedanken sind bei den Verletzten. Wir haben die Hoffnung, dass von den Zehntausenden, die heute mitgemacht haben, wieder so viele dabei sind, wenn unser Protest das nächste Mal notwendig wird.

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