VORLESESTUNDE

Eine These: Man lässt sich viel zu selten vorlesen. Bei LiesLos ist das Vorlesen Konzept. Studis können hier ihre kreativen Texte vor Publikum ausprobieren oder ihnen einfach zuhören. Line Grathwol hat sich vorlesen lassen und mit einer der Autor*innen gesprochen.

Die coffebar an der HU bietet eine perfekte Kulisse und eine gemütliche Atmosphäre. Foto: Lilli Schlünz

Ich komme zu spät. Die Tür knarzt unangenehm lang und unangenehm laut und der Blick von unerwartet vielen Menschen landet auf mir. Die Szene, die mich erwartet, überrascht mich. Der Raum, in den ich eintrete, würde auch in eine herrschaftliche Villa passen. Einige Tische sind zur Seite geschoben worden, für die Vorlesenden stehen zwei mit Samt überzogene Stühle bereit und über diesen hängen zwei Kronleuchter von der Decke. Um sie herum sitzen an die vierzig Studierende mit Weingläsern vor sich. Es kommt mir sehr vornehm vor –  allerdings finde ich später heraus, dass der Wein kostenlos ist. 

Zehn Minuten Rampenlicht

Ich befinde mich in der Coffebar der HU bei LiesLos. LiesLos ist eine Veranstaltung vom Berliner StudierendenWERK, die Studis die Möglichkeit bietet, ihre kreativen Texte vor einem Publikum vorzutragen. Alle angemeldeten Leser*innen bekommen zehn Minuten Zeit –  anschließend gibt es Feedback und das Publikum bekommt die Möglichkeit, Fragen zum Text zu stellen. Es sind vielfältige Stile, Genres und Themen, die wir an diesem Abend zu Ohren bekommen. Wir hören einen Text über das Dilemma der Herkunft, ein modernes Märchen und eine vor Absurditäten überquellende Erzählung über einen Storch. Manche Texte fesseln, andere weniger. Aber das ist auch Sinn und Zweck der Sache: Man darf sich hier ausprobieren. LiesLos selbst beschreibt sich Safe Space, in dem „ein fairer und respektvoller Rahmen für Austausch, Feedback und Networking entsteht”. Und so nippe ich nach der Pause schon entspannt an meinem Gratiswein und finde es großartig, dass mir mal wieder vorgelesen wird.

Die Vorlesenden können sich im Licht von tollen Kronleuchtern präsentieren. Foto: Lilli Schlünz

Eine besondere Erfahrung 

Ein Text sticht besonders hervor. Die sprachlichen Bilder sind treffend beobachtet, gut ausgewählt und rufen sehr präzise Emotionen in uns Zuhörenden hervor. Der Text handelt von der Katze der ehemaligen Mitbewohnerin von Razieh Torabi, der Autorin. Razieh studiert Veterinärmedizin an der FU und lernt seit circa zwei Jahren Deutsch. Es ist einer ihrer ersten Texte auf Deutsch. Sie erzählt mir von ihrem Schreibprozess und von ihrer Erfahrung bei LiesLos.

Als ich Razieh frage, wie sie mit dem Schreiben angefangen hat, erzählt sie mir, dass sie, sobald sie schreiben konnte, anfing Tagebuch zu schreiben. „Die Tagebücher”, sagt sie, „boten mir immer eine Zuflucht für meine allerlei Worte.”  Ob diese Tagebücher allerdings mit ihrem ersten literarischen Text zusammenhängen, wisse sie nicht. „Dass ich aus einem inneren Drang heraus einen Text schrieb, der zu einem Gedicht wurde, kann Zufall gewesen sein.” Ihr Schreibprozess heute ist in gewisser Weise auch noch vom Zufall geprägt. Razieh beschreibt, dass sie im Vorhinein nie wisse, wovon ihr nächster Text handeln werde. Bestimmte Wahrnehmungen würden sie so beeindrucken, dass sie nach einer unbestimmten Zeit „unbedingt und unverschiebbar, genau dann darüber schreiben muss”. Im Nachhinein ändere sie fast nie etwas an dem fertigen Text.

Raziehs Erfahrung bei LiesLos hat mich besonders interessiert, da sie als Autorin dort eine andere Rolle als ich eingenommen und damit eine andere Perspektive auf die Veranstaltung hat. Sie erzählt mir, dass sie sich bei der Veranstaltung angemeldet hätte, um einen ihrer ersten deutschen Texte vor Publikum zu lesen und herauszufinden, wie dieser auf andere Menschen wirke. Sie habe die Atmosphäre bei LiesLos als offen und positiv wahrgenommen und auch die Rückmeldungen hätten ihr viele Anregungen mitgegeben. Aber auch als Zuhörerin habe sie eine gute Zeit gehabt: „Ich habe mich gefreut, den anderen Autor*innen zuzuhören und mich in die Welt ihrer Texte zu begeben.” In Zukunft könne sie sich gut vorstellen, weitere ihrer Texte in den samtenen Stühlen der Coffeebar vorzulesen.


Die nächste Veranstaltung findet allerdings erst wieder im Sommersemester statt. Bis zum Sommersemester gibt es zwei Alternativen, die gut zur Überbrückung dienen können: Am 9.02. kann man sich bei der Lesung von „Berlin Stories”, einem studentischen Stadtschreiber*innen Projekt, oder am 16.02 bei „Text Transit”, Texte von Studierenden vorlesen lassen. Auch hier dürfte das Vorbeischauen lohnend sein –  nur nicht zu spät kommen, die Tür knarzt!

Autor*in

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.