Tränen auf der Tastatur

März heißt graue Tage und erste Sonnenstrahlen, bedeutet Frühjahrsputz und Krokusse, doch für Studierende vor allem eins: Zeit für die Seminararbeit. Stetige Begleiter in diesem harten Prozess sind die tapferen Computer der sich quälenden Schreiberlinge. Ausschnitte aus dem Tagebuch des Laptops von Julia Schmit.

Das Leiden der Personen ist präsent. Wer hört die Stimmen der PCs? Foto: Pixabay

Tag 1

Hier sind wir wieder: in der vorlesungsfreien Zeit. Ich bin zugleich ängstlich und voller Vorfreude. Das leere Dokument verspricht Arbeit für mich. An diesem ersten Tag sind sie und ich ein Team, eine Einheit, ich bin wie ein Teil ihres Gehirns und nichts kann uns aufhalten – zumindest vorerst. Das Abenteuer beginnt: drei gemeinsame Wochen und 5000 Wörter. 

Tag 3

800 Wörter bisher. Hauptsächlich unzusammenhängende Notizen und Fragen. Sie hat vergessen, unser Virenschutzprogramm zu aktualisieren und ich habe Angst vor einer Infektion. Ich schicke ihr mehrmals täglich eine Erinnerung, aber sie klickt sie stets weg. Liebt sie mich nicht mehr? Will sie, dass ich gehackt werde? 

Tag 8

Sie schreibt viel. Ist irgendwas davon gut? Der Ordner für die Arbeit hat inzwischen zwölf verschiedene Dokumente. Eins heißt “Kapitel 2_neu_ganzneu_mit Zitaten”. Ein anderes heißt einfach “Random Gedanken 23”. Ich stoße an meine Grenzen.

Tag 10

2000 Wörter. Erste Blockade. Sie entwirft das Deckblatt, um sich produktiv zu fühlen. Ich kenne das schon. 

Tag 12

Heilige Pixel und Bytes, steht mir bei! Sie ist im Youtube–Loch versunken. Seit 56 Minuten schaut sie Menschen dabei zu, wie sie sich mit Serum eincremen. 

[34 Minuten später]

Tränen fallen auf meine Tastatur. Sie schaut Videos an, wie gehörlose Kinder mithilfe von Implantaten das erste Mal die Stimmen ihrer Eltern hören. Word wurde heute noch nicht geöffnet. 

Tag 15

Auffällige Abwesenheit. Seit mehreren Tagen nicht hochgefahren. Radikaler Digital Detox nach der Youtube-Eskalation an Tag 12?

Tag 16

Lange Abwesenheit ergibt endlich Sinn. Sie hat den Rivalen ins Gefecht geholt und tagelang nur in den Collegeblock geschrieben. Jetzt werden die Kapitel ins Reine geschrieben. Meine Tastatur ist on fire. Neben dem Dokument ist ein Tab mit Netflix offen. Es läuft Friends. Ich glühe. Rachel und Ross haben ihren großen Streit. Wieder Tränen.

Tag 18

Die große Krise vor der Abgabe hat begonnen. Das “H” auf meiner Tastatur klemmt, weil Toast-Krümel sie bedecken. Auszüge aus der Google-Suchhistorie der vergangenen Nacht:

Ausbildung Restaurantkritik 

Timothée Chalamet Freundin

Sodbrennen Ursachen

motivational quotes for students

Postmoderne einfach erklärt

Nasenspray Sucht Anzeichen 

Tag 21

Tag der Abgabe. Sie klickt auf Senden. Ich bin wehmütig, aber erleichtert. Im September kommt das Gleiche wieder auf uns zu. Ich werde für sie da sein. Wir sind ein Team.

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