Eine Kurzgeschichte von Matthis Borda.
Ich kann mich nicht an den genauen Tag erinnern, an dem ich unsichtbar wurde. Ich habe es erst gar nicht bemerkt, es passierte sozusagen bei Nacht und Nebel. Nach vier Online-Semestern ging ich nun Tag für Tag in die Uni und versuchte, nicht aufzufallen. Während mein Gehirn das ›Dü-Düt‹, das ertönt, wenn eine Person dem Webex-Raum beitritt, subtil der Szenerie vor Ort hinzufügte, war ich wie gewohnt nur eine Kachel ohne Bild. Doch als der Dozent meinen Namen aus der Anwesenheitsliste vorlas und meine Meldung nicht sah, hatte ich eine Offenbarung. Vielleicht hätte ich einfach etwas sagen sollen. Ich bin schließlich unsichtbar — nicht unhörbar.
Doch so ist es einfacher, niemand verurteilt mich. Ich schaue an mir herab und sehe nichts. Dieser Körper, der sich so falsch anfühlte, ist verschwunden. Jetzt fühle ich ihn nur noch, anders, aber nicht falsch. Zum ersten Mal ziehe ich nicht unbewusst meinen Bauch ein. Unsichtbar sein ist ein Schutzanzug vor fremden Blicken, aber auch vor meinen eigenen.
Ein Test. Charlie neben mir, den Namen habe ich aus Gesprächen aufgeschnappt, hat immer zwei Schokoriegel dabei. Bei Beginn der Vorlesung legt Charlie sie rechts parallel zueinander neben die Wasserflasche. Ich verschiebe einen. Charlie merkt nichts. Das nächste Mal bin ich mutiger. Ich öffne einen der Riegel. Als dies unbemerkt bleibt, beiße ich ab und lege ihn schnell zurück. Ein kleines Gefühl der Macht. Die Reaktion, als Charlie es bemerkt, löst bei mir einen Adrenalinkick aus. Der Gesichtsausdruck ist witzig, so süß irritiert und schwer beunruhigt. Ich kann den Gedankengang an der zuckenden Nase erkennen. Nervöse Finger fliegen über die Tastatur. Charlie schreibt einer Freundin und beißt schließlich selbst ab.
Auch das Essen aus der Mensa schmeckt besser, wenn man es sich häppchenweise von den Tellern der von ihren Smartphones abgelenkten Studierenden zusammenklaut. Natürlich könnte ich auch mit einem voll beladenen Teller Nudelauflauf an der Kasse vorbeischleichen und umsonst essen, aber wo bleibt da der Spaß?
Die nächste Woche. Langsam werde ich übermütig. Ich stelle mich mitten im Hörsaal auf einen Stuhl. Etliche Blicke, die mich durchbohren, und ich genieße es. Sie sehen durch mich hindurch, doch ich sehe in sie hinein. Nie war es so einfach Menschen kennenzulernen ohne mich selbst einzubringen. Ich schreibe auf ein fremdes Blatt: »My non-existence gives me comfort.«
Es ist schon schräg. Seit ich unsichtbar bin, fühle ich mich anderen Menschen so viel näher. Als hätte ich nur diesen Schutzanzug gebraucht, um endlich ihre Anziehung zu spüren. Ich hatte gedacht, unsichtbar zu sein, hieße frei zu sein. Doch stattdessen binde ich die gelösten Fesseln an mein Herz und lasse mich ziehen. Erst jetzt ist mir klar geworden, dass ich vielleicht gar nicht frei sein will. Was ich wirklich will, ist, den Anderen nah zu sein.
Jetzt werde ich wahrgenommen und das Verrückte ist: Es gefällt mir. Jetzt, wo niemand mich sieht, erschrecken sie bei meiner zarten Stimme neben ihren Ohren, die so tut, als wäre sie ihr Gewissen. Jetzt stellen sich ihre Nackenhaare auf. Ich bin wie die unerfüllten Träume ihrer Eltern, Laktose oder das Patriarchat. Ich habe Macht über ihre Körper.
Ich habe nachgedacht und ich glaube, ich bin ein Poltergeist, der Streiche spielt und Menschen erschreckt. Ich entspreche nicht der typischen Vorstellung einer unsichtbaren Person. Es erregt mich einfach nicht, in Toiletten auf Genitalien-Jagd zu gehen. Es ist nicht der Reiz des Verbotenen, der mir mein Adrenalin verschafft. Es ist mein Schatten, der verschwunden ist, seit ich unsichtbar bin. Nun ist jeder Sprung leicht. Und wäre mein Schatten noch da, ich hätte ihn längst überwunden.
Selbstbewusst streife ich durch den Hörsaal. Meine Hand gleitet die Stühle entlang. Ich habe in alle meine Initialen eingeritzt. Ich gehe einige Schritte weiter hoch, bis ich jeden Stuhl in der Reihe berührt habe, und schaue zurück. Mein Blick wandert zur Tür und dort stehe ich. Ich schaue mich an. Das bin nicht ich, das war ich. Das andere Ich schaut an mir vorbei, neben mich. Dort lässt Charlie gerade einen Stift fallen. Ich hebe ihn auf, ich schaue Charlie an, Charlie schaut mich an und sagt: »Danke«. Mein altes Ich verschwunden, unsichtbar.