Kulturreif Spezial: Feministischer Kampftag

Der heutige 8. März ist Internationaler Frauentag und in Berlin seit 2019 gesetzlicher Feiertag. Drei Empfehlungen für die feministische Lektüre von Julia Schmit

Foto: Julia Schmit

Charlotte Gneuß, Laura Weber (Hg.): Glückwunsch. 15 Erzählungen über Abtreibung

Nachdem im Juni 2022 der Bundestag endlich für die Abschaffung des sogenannten Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche (§219a StGB) abstimmte, dürfen Ärzt*innen in Deutschland Informationen über Abtreibungen auf ihren Websiten bereitstellen. In derselben Woche wurden die Rechte von ungewollt Schwangeren in den USA in verheerendem Ausmaß beschnitten. Der Oberste Gerichtshof setzte dort die Grundsatzentscheidung zum Recht auf Auftreibung außer Kraft, weswegen Frauen* in Staaten wie Idaho, Louisiana und Texas kaum Zugang zu einer legalen und sicheren Abtreibung haben.

Literatur als Brücke zwischen Figuren und Leser*innen

Um das Recht auf körperliche Selbstbestimmung geht es den beiden Herausgeberinnen des Erzählbandes Glückwunsch. 15 Erzählungen über Abtreibung Charlotte Gneuß und Laura Weber. Sie haben zeitgenössische Texte von 15 Autor*innen gesammelt, die sich den Erfahrungen von ungewollt Schwangeren widmen. Der Band soll Platz in der Sprache schaffen für einen Gegenstand, der viel zu lange in Scham und Schweigen eingehüllt war, in Literatur sowie Gesellschaft. 

Die Texte sind aufmerksam und liebevoll kuratiert. Da sind Kurzgeschichten wie Die Vertreterin von Yael Inokai, in welcher die mittelalte Romy in einer nahen Zukunft in kleinen grünen Koffern das Gerät SAZ (Sicher abtreiben zuhause) in der Stadt verteilt; eine Utopie von Abbrüchen ohne Stigma und Demütigung. Oder Geister von Daniel Schreiber, in dem der Maler Noam über das Gespräch mit einer schwangeren Freundin vor vielen Jahren reflektiert und sich fragt, ob er ihr den richtigen Rat erteilte. 

Manche Texte sind eher essayistisch, wie Jayrôme C. Robinets Keine Frage, ein Brief an die Mutter, in dem der Autor über Familie, Abtreibung und Trans-Identität nachdenkt. Visuell wie inhaltlich heraus sticht Karosh Tahas Text Eine Abtreibung, der eckige Lücken im Textfluss enthält. Darin gibt die Mutter der Erzählerin ihr den erschreckenden Rat: „Trink Asche, das tötet das Namenlose.” Besondere Erwähnung verdient auch der Text Ladies Night von Raphaëlle Red, eine Art Prosagedicht, in dem durch evozierte Gespräche, Situationen und Gefühle die Frage nach weiblicher Erfahrung erkundet wird. 

„Die Ladies sagen okay, aber lass uns im Krankenhaus darüber sprechen.”  – Raphaëlle Red: Ladies Night 

Weber und Gneuß versammeln in diesem Band 15 völlig unterschiedliche Erzählungen; ihnen gelingt ein schillerndes Panorama aus Perspektiven auf ein viel zu lange unsichtbares Thema, das im Zentrum der feministischen Bemühung um Selbstbestimmung steht. Eine absolute Leseempfehlung!

Glückwunsch. 15 Erzählungen über Abtreibung, herausgegeben von Charlotte Gneuß und Laura Weber, ist im Februar 2023 erschienen, hat 200 Seiten und kostet 23 Euro. 


Sofi Oksanen: Baby Jane

Sofi Oksanens zweiter Roman erschien bereits 2005; jetzt ist er zum ersten Mal aus dem Finnischen ins Deutsche übersetzt worden. Andrea Plögers Übersetzung ist feinfühlig und stimmig, sie hat ein Glossar hinten im Buch erstellt, um Begriffe und Anspielungen für deutsche Leser*innen zu erläutern. 

Baby Jane ist die Geschichte einer namenlosen Ich-Erzählerin, die sich im Helsinki der 1990er Jahre rauschhaft in Piki verliebt, „die coolste Lesbe der Stadt”. Die beiden brauchen dringend Geld und erfinden „Susanna”: einen telefonischen Bestellservice für getragene Slips und Strumpfhosen. Schnell haben sie Erfolg: Es gibt Zigarillos, Rum und einen Walkman! Doch die Beziehung gerät immer mehr aus den Fugen. Piki hat eine Panikstörung, die sie daran hindert, alltägliche Dinge zu tun. Die gemeinsamen Träume – ein Spaziergang im Schnee, ein Tag im Linnanmäki Freizeitpark von Helsinki – werden von der Angst geschluckt. 

Eingesperrt im eigenen Kopf

Der Titel des Romans ist eine Referenz auf den klaustrophobischen Psycho-Thriller What Ever Happened to Baby Jane? mit Bette Davis und Joan Crawford aus dem Jahr 1962. Und wie die zwei Schwestern im Film sich terrorisieren, so wird auch die Beziehung der beiden immer schlimmer: Eifersucht und Abhängigkeiten vermischen sich in einer spannungsreichen Erzählstruktur mit Versöhnung und Verzweiflung, bis es zur Eskalation kommt… 

Sofi Oksanen erkundet in ihrer Arbeit immer wieder psychische Erkrankungen und ihre Stigmatisierung. Bereits in ihrem ersten Roman Stalins Kühe hatte sie von Essstörungen erzählt. Baby Jane ist ein Roman, der heute, 20 Jahre nach seiner ursprünglichen Veröffentlichung, genauso relevant ist wie damals. Wer sich für queere Liebe und psychische Gesundheit interessiert, sollte ihn auf jeden Fall lesen. 

Baby Jane von Sofi Oksanen, aus dem Finnischen von Angela Plöger, ist im Januar 2023 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, hat 221 Seiten und kostet 22 Euro. 


Teresa Bücker: Alle Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit

Wer feministisch auf Twitter unterwegs ist, kennt ganz sicher Teresa Bücker. Die Journalistin und ehemalige Chefredakteurin des Onlinemagazins Edition F schreibt dort und in ihren Kolumnen im breiten Spektrum über Themen wie Arbeit, Gerechtigkeit und Mutterschaft — aus feministischer Perspektive, raffiniert und witzig. 

Mit Alle Zeit hat sie ein politisches Sachbuch geschrieben, in dem sie unseren Umgang mit Zeit unter die Lupe nimmt. Das Buch ist kein neoliberaler Ratgeber, sondern vielmehr das Gegenteil. Bücker stellt darin die These auf, dass die Frage nach Zeitgestaltung keineswegs eine individuelle, sondern eine gesellschaftliche Baustelle ist. Dadurch dass Erwerbsarbeit den größten Teil unserer Zeit einnimmt, werden Freund*innenschaften, Sorgearbeit und Ruhe an die Ränder der Zeit gedrängt. Es entsteht ständig das Gefühl, dass die Zeit uns davonrennt. 

“Care ist Zeit”

Bücker versteht Zeit als Ressource, deren Umverteilung ein notwendiger Schritt für eine gerechte Gesellschaft ist. Sie widmet ein ganzes Kapitel der Sorgearbeit, und betont hierbei die heftige Doppelbelastung, der viele Frauen* in Deutschland ausgesetzt sind. Die Familienpolitik der Bundesregierung bekommt hier viel Kritik, vor allem auch aufgrund der enormen Belastungen, die Care-Personen und Eltern während der Lockdowns erfuhren.

 „Ist es Arbeit, ein Baby in den Schlaf zu wiegen?” – Teresa Bücker: Alle Zeit 

Leser*innen von Bückers Alle Zeit können sich auf erschreckende Zahlen und glasklare Argumentationslinien freuen. Mit feministischen Perspektiven aus Soziologie, Ethnologie und Politikwissenschaft ist dieses Plädoyer für mehr Zeitgerechtigkeit ein Must-Read für die Semesterferien. 

Alle Zeit von Teresa Bücker ist im Oktober 2022 bei Ullstein erschienen, hat 398 Seiten und kostet 22 Euro.

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